Maria im Schnee
Einer Himmelstreppe gleichen die letzten Schritte auf dem mit Stufen aus rotbraunen Urgesteinsplatten und Drahtseil ausgestatteten Steig über dem Übeltalferner, dem größten Gletscher des Gebiets.
"Beim Herrgott" geht es zur Kapelle hinein. Pichler hat ein kleines metallenes Kruzifix an der Tür angebracht. Drinnen ist es trotz der hochsommerlichen Temperaturen recht frisch. Der Wirt bittet, den Eingang schnell wieder zu schließen. Der vier mal fünf Meter große Raum dient ihm auch als Speisekammer. Das Kühllager ist notwendig, denn wegen seiner exponierten Lage kann das Becherhaus nur durch teure Hubschrauberflüge mit Lebensmitteln versorgt werden.
In der Kapelle selbst ist von der Zweitnutzung nichts zu merken. Ein kleiner Hochaltar mit einem schlichten Marienbild und sechs frisch mit rotem Samt überzogene Kniebänke empfangen die Bergsteiger. Viele nutzen die Gelegenheit zum stillen Dank für den geglückten Aufstieg, aber auch zum Gedenken an Freunde und Verwandte, die in den Bergen ihr Leben verloren haben.
Sechs Stunden Fußmarsch
Wer "Maria im Schnee" besuchen will, muss mindestens sechs Stunden Fußmarsch auf sich nehmen. Das gilt aber nur für den Direktzugang aus dem Südtiroler Ridnauntal. Vom österreichischen Stubaital aus geht es zuvor über den Alpenhauptkamm, wodurch sich die Zeit verdoppelt - und der Aufwand, denn ohne Pickel und Steigeisen ist der Aufstieg über den Gipfel des "Wilden Freiger" (3.418 Meter) unverantwortlich. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit werden in diesem Gelände vorausgesetzt.
Münchner Professoren waren es, die Ende des 19. Jahrhunderts zuerst davon träumten, auf diesem einmaligen Aussichtsbalkon eine Hütte zu errichten. Angeblich lässt sich bei perfektem Wetter vom Becher aus nicht nur auf das Panorama der Dolomiten, sondern sogar bis zur Adria schauen.
Ein Trick musste helfen, um in dieser Traumlage eine Unterkunft errichten zu können. Denn die österreichische Regierung sah dafür keine Notwendigkeit mehr - kaum eine halbe Stunde von einer bereits bestehenden Hütte entfernt. Kurzerhand trug die Hannoveraner Sektion des Deutschen Alpenvereins Kaiserin Elisabeth die Schirmherrschaft über das Projekt an, und die bergbegeisterte Majestät stimmte sofort zu.
"Sisi" am Hütteneingang
Unter unsäglichen Strapazen transportierten Träger 1894 mehr als 25 Tonnen Material auf den Berg. Wilde Stürme und Schnee erschwerten die Bauarbeiten. Dennoch wurde das "Kaiserin-Elisabeth-Schutzhaus" rechtzeitig zum Geburtstag des Kaisers am 17. August fertig. Ein 80 Kilogramm schweres Marmorrelief der "Sisi" am Hütteneingang zeugt bis heute von dieser Historie.
Damals gab es noch Mannsbilder, die solche Lasten schultern konnten. Der Hüttenwirt legt Wert auf die Tradition des Hauses und hat vor Jahren einen inoffiziellen Wettstreit ausgerufen. Er ließ nach traditioneller Art Kraxen fertigen. Wer mit der Traghilfe das meiste Brennholz heraufschafft, wird seither mit Namen verewigt. Der aktuelle Rekord beträgt 61,5 Kilogramm. "Oben angekommen bin ich als erstes in die Kapelle gegangen und habe dort ein Vaterunser gebetet, dass alles gut gegangen ist", zitiert ein Zeitungsausschnitt von 2008 den starken Mann.
Besuchermagnet
Die Existenz des Andachtsraums verdankt sich der Frömmigkeit der Bergbevölkerung. Schon bald entwickelte sich das Becherhaus zu einem Besuchermagneten, nur drei Jahre nach seiner Eröffnung gab es den ersten Anbau. Doch die Bergführer aus der Umgebung fühlten sich dem sonntäglichen Kirchgang verpflichtet und mieden die Hütte am Wochenende. Daraufhin besorgte der Hannoveraner Sektionsvorstand Carl Arnold persönlich Kreuzpartikel, Altarstein, Heiligenbüsten und Messgewänder. Das trug ihm den Spitznamen "Hochwürden" ein.
Auf ein Zeitungsinserat hin meldeten sich Geistliche aus ganz Mitteleuropa für den Messdienst. Allerdings blieben diese "öfter länger als vorgesehen am Becher und konsumierten dabei auch ganz gehörig", wie die Hüttenchronik vermerkt. Irgendwann wurde die Sache für die Sektion zu kostspielig. Man vereinbarte für jede gelesene Messe eine feste Summe. Damit mussten die geistlichen Herren fortan selbst für ihre Verpflegung aufkommen.
Zwei bis drei Gottesdienste pro Saison
Das Arrangement rentierte sich für beide Seiten. In Hochzeiten waren 30 Bergführer während der Sommermonate auf dem Becherhaus stationiert - und ein Priester. Sonntag für Sonntag drängten sich um vier Uhr früh Touristen, Führer, aber auch das Personal der Hütte, Nachbarn und Knappen aus dem Erzabbau am Schneeberg in der Kapelle. Heute finden immerhin noch zwei bis drei Gottesdienste pro Saison statt, die keine drei Monate dauert. Je nachdem, wie oft bergtaugliche Priester den Weg zur Hütte unweit des "Wilden Pfaff" (3.457 Meter) auf sich nehmen.
Für Pichler ist die Tätigkeit als Hüttenwirt kein Job, sondern eine Passion. Vor einigen Jahren hatte der Nachfahre des Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer die Pacht schon einmal abgegeben - aus familiären Gründen, aber es fand sich kein Nachfolger. "Da konnte ich das Becherhaus doch nicht alleinlassen", erzählt der 51-Jährige.
In den Erhalt und Ausbau der Kapelle investiert der Südtiroler viel Mühe. So um die 250 Euro hinterlassen die Hüttengäste pro Jahr im hölzernen Opferstock, den Pichler für die Renovierung nutzt. So hat er vor einigen Jahren die originalen Kerzenständer gefunden und neu versilbern lassen. Seine Frau Andrea hat das Altartuch gestickt. Auch ein funktionstüchtiges Harmonium mit Fußblasebalg, genauso alt wie die Hütte selbst, gehört zum Inventar. Pichler konnte das Instrument aus einer Pfarrei im Passeiertal besorgen. Schon plant er die nächste Anschaffung, einen Kreuzweg. Erst dann, sagt der Wirt, sei es eine richtige Kirche, seine "Maria im Schnee".
Von Christoph Renzikowski (KNA)