"Maria ist auch 'evangelisch'"
Im Oktober ist Rosenkranzmonat, im Mai erklingen in den Gottesdiensten Marienlieder, es gibt Andachten und nicht wenige brechen zu Marienwallfahrten auf. Allerdings ist das nur bei den Katholiken der Fall. Für Christen anderer Konfessionen hat Maria eine andere Bedeutung, was auch zu anderen Formen der Verehrung oder Wertschätzung führt.
Den Ausgangspunkt dazu legt die Bibel: Die Mutter Jesu wird in den Evangelien namentlich erwähnt – immer in Bezug auf ihren Sohn. Der Engel kündigt die Geburt des Gottessohnes an, sie betet aus Freude darüber das Magnificat, sucht später Jesus im Tempel oder ermahnt ihn auf der Hochzeit zu Kana. Zum Schluss steht sie unter seinem Kreuz und ist an Pfingsten inmitten der betenden Urgemeinde. Aus Überlegungen über die Rolle Mariens – ohne ihr Ja zum Plan Gottes hätte es keine Menschwerdung geben können – entstanden im Laufe der ersten Jahrhunderte des Christentums zwei Dogmen. In der katholischen Kirche kamen in der Neuzeit zwei weitere dazu.
Die Theotokos der Orthodoxen
Dass Maria nicht nur die Mutter des Menschen Jesus, sondern die des göttlichen Wesens – also "Gottesgebärerin" ist, wie das Konzil von Ephesus 431 erklärte, erkennen die meisten Orientalen, die Orthodoxen und die Katholiken an. Neben Katholiken erkennen auch die Orthodoxen das Dogma an, dass Maria vor, während und nach der Geburt Jesu immer jungfräulich blieb.
Für die orthodoxen Christen ist Maria außer Gottesgebärerin (altgriechisch: Theotokos) und immerwährender Jungfrau ihre Fürbitterin und Helferin und sie steht über den himmlischen Mächten und Heiligen, weil sie von Gottvater zur Geburt des Sohnes "von Ewigkeit her" auserwählt war. In der Dogmatik gibt es – anders als in der katholischen Kirche – keine spezielle Mariologie; ihre Rolle wird innerhalb der Christologie abgehandelt. Dennoch nimmt Maria eine bedeutende Stellung ein – etwa in der Liturgie. Vier der zwölf Hochfeste beziehen sich auf sie: Mariä Geburt (8. September), Einführung Mariens in den Tempel (21. November), Mariä Verkündigung (25. März) und Mariä Heimgang am 15. August. Zudem ist jeder Samstag grundsätzlich dem Gedächtnis Mariens gewidmet.
Obwohl ihre Liturgie Maria als untadelig und unbefleckt bezeichnet, vertritt die Orthodoxie nicht die Lehre von der unbefleckten Empfängnis, weil sie ein anderes Verständnis von der Erbsünde hat als die römisch-katholische Kirche. Den Tod der Gottesmutter sehen orthodoxe Theologen als Gegenargument zur Erbsündenfreiheit, denn nach Römer 6,23 ist der Tod "Lohn der Sünde". Bei der Empfängnis der Anna, die laut dem Protoevangelium des Johannes Marias Mutter ist, betont die Orthodoxie deshalb nicht eine unbefleckte Empfängnis sondern das Zeichen Gottes, dass das alte und unfruchtbare Ehepaar Joachim und Anna ein Kind empfing.
"Maria? Das ist doch was Katholisches"
In der evangelischen Kirche winkten Christen lange Zeit ab: "Maria? Das ist doch was Katholisches", war ein Satz, der sich aus der jahrhundertelangen Abgrenzung und der daraus entstandenen Vorurteile entwickelte. Umso deutlicher erinnert der Evangelische Erwachsenenkatechismus der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) von 1989: "Maria ist nicht nur 'katholisch'; sie ist auch 'evangelisch'. Protestanten vergessen das leicht. Aber Maria ist ja die Mutter Jesu, ihm näher als seine nächsten Jünger."
Zwei Jahre später gaben die Catholica-Beauftragten deutschen Lutheraner vom VELKD und dem Lutherischen Weltbund eine "evangelische Handreichung" mit dem Titel "Maria, die Mutter unseres Herrn" heraus. Sie will informieren über die Marienverehrung in anderen Konfessionen, aber auch über die eigene Lehre und Frömmigkeit. Es heißt dort etwa, dass es keine gesonderte Mariologie und keine Anrufung Mariens gibt. Allerdings wird auch kritisiert, dass Evangelische "leicht Anstoß an der katholischen Marienfrömmigkeit" nähmen, indem sie diese "vergröbert wahrnehmen". Ziel des Buches ist es, Gemeinden zum "lebendigen ökumenischen Austausch" zu führen.
Mit Vorträgen in Kirchengemeinden versucht dies seit knapp 30 Jahren auch Michael Heymel, wenn er über "Maria aus evangelischer Sicht" spricht oder erklärt, wie man eine "evangelische Marienpredigt" halten könnte. Dem seit kurzem emeritierten Pastor der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau war es wichtig, eine eigene Position zu Maria zu formulieren und nicht nur – als Abgrenzung zu den Katholiken – zu sagen, was sie nicht ist. Deshalb studierte er die Aussagen zu Maria in den Schriften von Luther, Calvin und Zwingli. "Eine der wichtigsten Entdeckungen für mich war, dass es so etwas wie ein 'Marienlob der Reformatoren' gibt," sagt Heymel.
Martin Luther etwa habe gepredigt, dass Maria durch den Heiligen Geist erleuchtet sei und im Magnificat aus Erfahrung rede, was Gott in ihr für große Dinge wirkt, berichtet der habilitierte Theologe. Luther habe sie unbefangen Gottesmutter genannt und besonders ihre Demut hervorgehoben: Sie, die den Höchsten in sich trägt, tut alltägliche Dinge und geht zu Fuß zu Elisabet, obwohl es ihr gebührt hätte, wie eine Königin getragen zu werden. Luther hat auch nicht angezweifelt, dass Maria im Himmel ist, auch wenn seine Haltung zu unbiblischen Festen wie Mariä Himmelfahrt zunehmend kritischer wurde. Am 15. August 1522 predigte er: "Man kann aus diesem Evangelium nicht beweisen, dass Maria im Himmel ist, ist auch nicht vonnöten; man muss nicht alles genau aussagen können, wie es mit den Heiligen im Himmel zugeht."
"Nach Luthers Aussage will Maria nicht, dass man zu ihr bete, sondern mit ihr zu Gott," berichtet Heymel. Dies geschehe aktuell, wenn etwa zusammen mit Maria eine der vielen Liednachdichtungen des Magnificat gesungen werde. Dabei werde vermieden, Maria als Fürsprecherin anzusprechen – wie es etwa beim Salve Regina der Fall ist, das Luther ablehnte. Für Protestanten sei Christus der einzige Mittler und es sei deshalb für die Gläubigen nicht einsichtig, warum sie Maria um Fürsprache bitten sollten, erklärt der Pastor die Betpraxis.
Biblisch begründet oder nicht?
In nachreformatorischer Zeit sei Maria zum kontroverstheologischen Thema in Abgrenzung zum Katholizismus geworden, so Heymel. Aber die biblisch begründbaren Marienfesttage seien noch bis zur Aufklärung beibehalten worden. Danach sei Maria nur noch Sache von Fachtheologen gewesen, bis in ökumenischen Gesprächen im 20. Jahrhundert auch das Verbindende wiederentdeckt wurde, etwa die Maria aus den biblischen Texten und aus dem Glaubensbekenntnis. Heymel berichtet, in lutherischen Gottesdienstordnungen sei vorgesehen, dass auch an Maria erinnert werden kann, etwa am vierten Advent, in der Weihnachts- und Passionszeit sowie an Pfingsten. Hinzu kämen einige besondere Marientage, deren Lesungen und Gebete an die Stelle der Texte des Sonntags treten: Darstellung des Herrn am 2. Februar, Ankündigung der Geburt des Herrn am 25. März und die Heimsuchung Marias am 2. Juli. Sie würden zwar als Christusfeste gefeiert, böten aber Gelegenheit, durch die Gestalt Marias in den Liedern, Gebeten und in der Predigt Akzente zu setzen.
Heymel hatte sich auch die Schriften der Begründer der evangelisch-reformierten Kirchen angesehen. Demnach war Johannes Calvin distanzierter als Luther und hat die kultische Marienverehrung abgelehnt, während er zugestand, Maria sei als Mutter des Herrn hoch zu loben. Aber der Züricher Reformator Ulrich Zwingli habe mit der Darstellung Mariens begründet, weshalb alle Frauen geehrt und angesehen sein sollen. Er habe sich dagegen verwahrt, dass Frauen gezwungenermaßen in allzu großer Ärmlichkeit und Bescheidenheit leben müssen. "Da kommt ein sozialer Zug in die Auslegung der Marientexte bei Zwingli," sagt Heymel. Eine biblisch begründete Marienverehrung habe der Reformator akzeptiert.
Eine weitere Konfession, die die Marienverehrung nicht ablehnt, sind die Anglikaner. Aus England, wo die Marienverehrung eine lange Tradition hat, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte ein breites Spektrum der Marienfrömmigkeit. Was trotz der Einflüsse von Puritanern immer erhalten blieb, ist das Beten oder Singen des Marienlobs Magnificat beim allabendlichen Evensong. Auf strikte Ablehnung stößt die Marienverehrung hingegen bei vielen evangelikalen und freikirchlichen Bewegungen. Für sie sind solche Praktiken unbiblischer Götzendienst. Dass Maria aber eine besondere Frau war, die von Gott zu einer großen Aufgabe berufen oder erwählt worden war, streitet wohl keine der christlichen Gemeinschaften ernsthaft ab.
Hinweis: Am 15.8.2017 ergänzt um Luthers Einstellung zu Mariä Himmelfahrt