"Mensch, stimmt, da war was"
Frage: Herr Peruvemba, was ist eine "Vergessene Krise"?
Sid Peruvemba: Darunter verstehen wir im humanitären Sektor Krisen, die nicht in der Aufmerksamkeit stehen und dadurch weniger finanziert werden, wo also für die Menschen weniger getan wird. Es gibt einerseits Krisen, die sind uns komplett unbekannt, also nicht im eigentlichen Sinne vergessen. Andere Krisen sind in der Tat vergessen, aus der Aufmerksamkeit geraten. Und es gibt Krisen, die so strukturell geworden sind, dass man sie kaum noch als Krise wahrnimmt. Viele Menschen denken, eine Krise sei ein Erdbeben oder aufflammende Gewalt. Doch eine Krise kann beinah zum Normalzustand werden, beispielsweise beim Bürgerkrieg in Kolumbien, der fünfzig Jahre wütete.
Frage: Was sind im Moment die wichtigsten dieser Krisen?
Peruvemba: Es gibt aus humanitärer Sicht keine wichtigen und unwichtigen Krisen. Es gibt Zustände, die ein humanitäres Eingreifen verlangen - unzählige auf der Welt. Um nur einige zu nennen: der Südsudan, die ganze Sahelzone ist seit Jahren ein Krisenherd mit massiven Auswirkungen für die Bevölkerung. Boko Haram in Nigeria, das Tschadbecken, Mali, die Zentralafrikanische Republik, der Jemen. Wer diese Schlagworte hört, denkt: Mensch, stimmt, da war was. Aber drauf gekommen wäre man nicht, wenn jemand sagt, nenn mal eine Vergessene Krise.
Frage: Woran liegt das?
Peruvemba: Die Krise, die im Moment viel überlagert, ist Syrien, der Nahe Osten. Auch diese Krise drohte übrigens vor zwei Jahren vergessen zu werden, bis sie bei uns in Form von Flüchtlingen wieder angekommen ist. Nach fast drei Jahren Syrienkrieg hatte man sich an immer schlimmer werdende Nachrichten beinahe gewöhnt. Zugleich ist das System der humanitären Hilfe, aber auch das politische System wesentlich aufmerksamer geworden. Nicht jede Krise, die in den Medien vergessen ist, ist auch in Fachkreisen - also in humanitären und politischen Kreisen - vergessen.
Frage: In die Medien schaffen es viele "Vergessene Krisen" zum Beispiel dann, wenn Deutsche oder Europäer betroffen sind - zuletzt im Südsudan. Warum schaffen sie es sonst nicht?
Peruvemba: Diese Frage müsste man den Medien stellen. Ich finde es jedoch verständlich. Wir haben eine dermaßen große Informationsdichte, dass ich niemandem zumuten wollen würde, über die Krisen weltweit informiert zu sein. Mein Appell an die Medien ist, möglichst viel dafür zu tun, dass die Vergessenen Krisen es hin und wieder in die Schlagzeilen schaffen, gern auch mal positiv. Unser Hauptanliegen - und da sind wir in den letzten Jahren einen Schritt weiter gekommen - ist, dass die Politik nicht nur bei den Krisen finanziell hilft, die in der Öffentlichkeit stehen, sondern auch Verantwortung für die Krisen übernimmt, die keine Flüchtlingsströme nach Europa implizieren, die vielleicht abseits von geopolitischen Interessen stattfinden.
Frage: Fühlen sich die Menschen in Burundi oder dem Südsudan nach Ihrer Einschätzung "vergessen"?
Peruvemba: Ja, da gibt es ein Bewusstsein. Ich habe jedoch selten Betroffene erlebt, die sich über zu wenig Aufmerksamkeit beschwert hätten. Die Menschen wissen sehr wohl, dass zunächst einmal der Staat, in dem sie leben, dafür verantwortlich ist, dass es ihnen gut geht. Zivilgesellschaftliche Organisationen helfen ja freiwillig, und diese Hilfe erfahren die Betroffenen nicht nur als materielle Unterstützung. Jedes Lebensmittelpaket, jedes Hygienepaket, jedes Bohrloch, das zum Brunnen wird, ist auch ein Signal des Beistands, das den Menschen Mut gibt. Dieser Mut ist besonders wichtig in lange andauernden Krisen, in denen große Perspektivlosigkeit herrscht.
Frage: Gibt es durch die Flüchtlingssituation in Deutschland und Europa eine andere Sensibilität für die Krisen der Welt?
Peruvemba: Auf jeden Fall. Es ist beachtlich, was Deutschland im Kontext der Flüchtlinge leistet. Unsere Spender haben sich stark mit dem Leid befasst, durch das so viele Menschen auf unsicheren Wegen nach Europa kommen. Das trägt zum Verständnis für Notsituationen in anderen Teilen der Welt bei. Von dieser "freiwilligen Leistung" alleine darf man aber nicht die Krisenbewältigung abhängig machen. Für die braucht es immer eine politische Lösung.