Mit leerem Bauch zur Tempelreinigung
Frage: Herr Schwartz, "Auch Jesus hatte schlechte Laune" lautet der Titel Ihres Buches. Was konnte Jesus denn so richtig auf die Palme bringen?
Schwartz: Ganz banal hat ihn zum Beispiel Hunger auf die Palme gebracht (lacht). Das hat eine kleine Vorgeschichte: Der Buchtitel ist entstanden, weil ich mich mit einem Freund darüber unterhalten habe, dass Jesus mitunter ziemlich gereizt reagiert hat. Das bekannteste Beispiel ist, wenn er im Tempel in Jerusalem Einzug hält und die ganzen Händler und Geldwechsler sieht. Da berichtet die Bibel, dass ihn durchaus ein heiliger Zorn gepackt hat. Unmittelbar vor der Tempelreinigung wird im Markusevangelium aber erzählt, dass er mit seinen Jüngern von Betanien nach Jerusalem geht und Hunger bekommt. Da sieht er einen Feigenbaum, freut sich schon auf die Früchte und dann trägt der nichts – und was macht Jesus? Er verflucht den Baum.
Frage: Also ein sehr menschliches Verhalten des Gottessohnes.
Schwartz: Ganz genau. Das kennt jeder aus seiner eigenen Lebenssituation. Jeder hat schon einmal großen Hunger und freut sich und bekommt dann nichts zu essen. Von daher zeigt sich Jesus da völlig als ein wahrer Mensch, wie ihn auch das Credo bekennt, mit menschlichen Bedürfnissen. Andererseits war Matthäus es später unheimlich, dass Jesus quasi bauchgesteuert zur Tempelreinigung schreitet und hat in seinem Evangelium die Geschichte genau umgedreht. Dort geht Jesus zuerst in den Tempel und sieht die Händler und Geldwechsler. Bei ihm wird die Feigenbaum-Geschichte also zur Folgehandlung aus der Tempelreinigung. Bei Markus hingegen kann man es so interpretieren, dass Jesus einfach stinksauer in den Tempel geht, weil er vorher nichts zu essen bekommen hat.
Frage: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über die großen Überraschungen der Bibel zu schreiben?
Schwartz: Das hat seinen Ursprung in einer Osterpredigt, die ich gehalten habe. Thema war das Überraschende an Ostern. Häufig feiern wir Ostern sehr männerzentriert und mich hat bei der Lektüre der ganzen Osterevangelien doch immer wieder überrascht, wie viel Bedeutung da den Frauen, den ersten Zeugen der Auferstehung, zugebilligt wird. Nach der Predigt sprach mich ein Freund, der beim Herder-Verlag arbeitet, begeistert an: Gibt’s noch mehr solcher Überraschungen? Da könnten wir doch mal ein Buch drüber machen. Und ich: Ja, da gibt es wahnsinnig viele Überraschungen, Dinge, die man eigentlich kennt, aber oft überliest.
Frage: Haben Sie ein paar Beispiele?
Schwartz: Wer weiß beispielsweise noch, dass Mose ein Stotterer war und deshalb Aaron an seiner Seite hatte, der sein Sprachrohr wurde? Wer weiß, dass David gar nicht nur der strahlende Held und Stammvater Jesu war, sondern durchaus auch ein Frauenheld und ein ziemlich wüster Kerl, quasi ein Usurpator, der mit List an die Macht kam? Oder wer weiß, dass das Buch der Richter vor Gewalt und Auftragsmorden nur so strotzt?
Frage: Die Geschichten in Ihrem Buch sind einfach und zugleich profund geschrieben. Sie wollen offensichtlich nicht Fachleute, sondern prinzipiell jedermann erreichen.
Schwartz: Mein erstes Ziel mit dem Buch ist, dass die Menschen mal wieder die Bibel lesen und dort so überraschende Geschichten finden, dass sie eigentlich gar nicht mehr aufhören können. Ich möchte vor allem Leute erreichen, die im Grunde vor diesem Buch der Bücher solche Ehrfurcht oder auch Langeweile empfinden, dass es bei ihnen leider im Regal verstaubt. Denen will ich zeigen, dass die Bibel überhaupt nicht angestaubt ist, dass es sich lohnt, immer mal wieder das eine oder andere zu lesen, und dass man, wenn man aufmerksam liest, immer wieder hochspannende Sachen findet. Ganz wichtig: Ich will mich kirchenferneren Menschen mit dem Buch nicht anbiedern, aber ich biete allen Menschen, die es lesen wollen, die neuesten Erkenntnisse der biblischen Wissenschaft an.
„Die Leute aus Galiläa waren also quasi die Rheinländer Israels.“
Frage: Das klingt nach einem schmalen Grat zwischen Wissenschaft und Allgemeinverständlichkeit. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Schwartz: Ich stelle mir beim Schreiben immer vor, wie ich einem Menschen im persönlichen Gespräch etwas erzählen würde – gerade auch jungen Leuten. Glücklicherweise bin ich vom lieben Gott mit Mutter- und Vaterwitz ausgestattet, sodass ich mich selber freue, wenn ich beim Schreiben etwas schmunzeln muss. Das Humorvolle war mir gerade bei diesem Buch wichtig. Wenn ich das Buch dann ins Reine schreibe, versuche ich alle Dinge, die nicht direkt immer eingängig sind, auch nochmal zu erklären. Ich habe zum Beispiel einen Beitrag im Buch, der heißt "Fisherman's friends". Da geht es um die Apostel, von denen wir eigentlich relativ wenig wissen, und ich versuche zu erklären, warum die meisten von ihnen aus Galiläa stammen, denn das hat schon seine Gründe.
Frage: Welche Gründe sind das?
Schwartz: Jesus hat sich bewusst nicht aus dem jüdischen und synagogal-gebildeten Establishment bedient. Da ist nur einer, nämlich Judas Iskariot, von dem man annimmt, dass er aus Judäa stammt. Die anderen kommen wohl alle aus Galiläa, ganz einfach, weil es eine dicht besiedelte Region war. Da war alles so ein bisschen Multikulti. Es gab mehrere Sprachen, etwa auch Aramäisch, die dritte Weltsprache damals neben Latein und Griechisch. Und die Menschen dort kamen sehr oft mit anderen Religionen und Kulten in Kontakt. Sie waren fähig zu erzählen, was für sie wichtig ist – ohne dabei so zelotisch, so eifernd zu sein. Sie konnten in einfacher Sprache die verschiedensten Menschen erreichen.
Frage: Womit lässt sich die Region heute vergleichen?
Schwartz: Das ist wie im Rheinland! Da kommen die Franzosen oder die Engländer oder wer auch immer. Und die Rheinländer, die können mit jedem. Die Leute aus Galiläa waren also quasi die Rheinländer Israels (lacht). Lustige Menschen, die für die verschiedensten Dinge offen und darüber hinaus kommunikativ waren. Gehen Sie zum Beispiel als Fremder in Köln irgendwo in die Kneipe, werden Sie direkt angesprochen: "Setz dich! Erzähl doch mal, wo du eigentlich herkommst!" Man ist also eigentlich nie allein. So war das in Galiläa auch, während die Menschen in Judäa oder Jerusalem ganz anders waren: "Uh, die haben nichts mit uns zu tun. Da sind wir lieber vorsichtig."
Frage: Sind Sie selbst bei Ihrer Recherche und dem Schreiben des Buches auf neue Überraschungen gestoßen?
Schwartz: Oh ja. Zum Beispiel, als ich über Elija schrieb: Ich wusste, dass Elija mal einen Burnout hatte. Aber ich wusste nicht, dass das Krankheitsbild, das erst seit den 1970er-Jahren in der Psychologie als Burnout-Syndrom bezeichnet wird, früher "Elija-Müdigkeit" genannt wurde. Das war mir völlig neu. Oder dass die Episode im Johannesevangelium, in der Jesus sagt "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein", erst im dritten oder vierten Jahrhundert als letzte Perikope in das Evangelium eingefügt wurde. In den alten Versionen gibt es diese Geschichte gar nicht. Und sie verweist auf eine große theologische Diskussion, die damals geführt wurde: Kann ein Mensch, der nach der Taufe wieder sündigt, überhaupt nochmal Vergebung finden? Da gab es gerade beim Thema Ehebruch Vertreter, die davon ausgingen, man sei danach auf ewig aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen. Aber die Päpste waren zu der Zeit sehr der Barmherzigkeit zugetan und sie vertraten die Haltung: Es muss auch dann die Möglichkeit geben, noch Vergebung zu empfangen. Denn wir sind nicht die Kirche der Vollkommenen, sondern die Kirche der Sünder. Dass sich das alles in einer Erweiterung des Johannesevangeliums niedergeschlagen hat, hat mich fasziniert.
Frage: Was ist für Sie – vielleicht auch im übertragenden Sinne – das Überraschendste in der Bibel?
Schwartz: Die größte Überraschung ist doch, dass Gott in uns, sein Volk – obwohl wir immer wieder von ihm abfallen und ihn immer wieder vergessen –, dass er völlig in uns verliebt sein muss. Er lässt uns nie allein. Bei dem, was sich die Menschen so leisten, wäre ich an seiner Stelle wohl ziemlich sauer auf uns. Und er schickt uns sogar noch seinen Sohn und erlöst uns. Trotzdem heißt das nicht, dass wir dadurch bessere Menschen werden, sondern wir handeln oft wie früher. Gott lässt uns dennoch nicht im Stich. Das kann nicht nur Liebe sein, dass muss Verliebtheit sein – denn da sieht man gerne mal alles himmelblau.