"Nicht naiv, sondern realistisch"
Frage: Herr Seibel, in Pakistan wurde am Dienstag das Todesurteil gegen die Christin Asia Bibi ausgesetzt. Was bedeutet das?
Seibel: Das bedeutet zunächst, dass das verhängte Todesurteil nicht mehr vollstreckt werden kann. Das ist eine gute Nachricht. Dann wird der Fall in der weiteren Berufungsverhandlung neu bewertet. Asia Bibi bekommt also eine neue Chance, dass sie freigesprochen wird.
Frage: Was hat es mit dem Fall auf sich?
Seibel: Asia Bibi ist vor fünf Jahren wegen des Vorwurfs der Blasphemie verurteilt worden, weil sie angeblich den Propheten Mohammed beleidigt haben soll. Die Anzeige erfolgte nach einem Streit unter Arbeitskolleginnen. Asia Bibi bestreitet den Vorwurf jedoch. Üblicherweise werden in Pakistan diese Vorwürfe konstruiert und das Blasphemie-Gesetz missbraucht, um mit dessen Hilfe private, geschäftliche oder andere Auseinandersetzungen zu führen.
Frage: Warum kommt nun Bewegung in die Sache?
Seibel: Der oberste Gerichtshof ist die dritte und letzte Berufungsinstanz, nachdem zuvor das Todesurteil in zwei unteren Instanzen bestätigt worden war. Die Verteidigung von Asia Bibi hatte vor rund einem dreiviertel Jahr vor dem obersten Gerichtshof Berufung eingelegt. Jetzt erfolgte die erste Anhörung des Falles vor diesem Gerichtshof. Insofern gehört dieses Vorgehen zum üblichen juristischen Prozedere.
Frage: Welche Aussichten hat Asia Bibi auf einen Freispruch?
Seibel: Das ist in der jetzigen Situation schwer einzuschätzen. Der oberste Gerichtshof in Pakistan hat aber in der Vergangenheit schon Blasphemie-Urteile aufgehoben. Entscheidend aber ist, dass Asia Bibi und ihre Familie – sollte sie tatsächlich freigesprochen werden – sofort ins Ausland ausreisen kann, um der Gefahr außergerichtlicher Lynchjustiz zu entkommen. Das hat es in Pakistan schon gegeben. Der Fall hat aber mittlerweile weltweite Bekanntheit. Insofern gibt es Hoffnung, dass sich ein Land findet, das Asia Bibi und ihre Familie nach einem Freispruch aufnimmt.
Frage: Sie hatten von September bis November 2014 eine Petition für die Freilassung von Asia Bibi gestartet. Nur knapp 20.000 Unterschriften sind eingegangen. Zeigt das ein Desinteresse der Menschen in Europa am Schicksal verfolgter Christen?
Seibel: Nein, ganz im Gegenteil. Dass wir von Missio allein in Deutschland in diesem vergleichsweise kurzem Zeitraum 18.425 Unterschriften sammeln konnten, ist beachtlich. Gemeinsam mit Petitionen weltweit wurden rund 570.000 Unterschriften in den vergangenen Jahren geleistet. Ich glaube, das Bewusstsein für die Lage religiöser Minderheiten ist in Deutschland gewachsen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Verletzungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit vor einigen Jahren in Deutschland öffentlich kaum angesprochen wurden. Dass sich das verändert hat, sieht man beispielsweise in der Politik quer durch die Parteien. Politiker wie Volker Kauder (CDU) oder Christoph Strässer (SPD) setzen sich für bedrängte Christen ein. Es gibt in den Parteien Arbeitskreise, die sich mit dem Thema Religionsfreiheit beschäftigen. Das ist neu. Die Unterzeichner unserer Petition für Asia Bibi waren nicht allein kirchlich Engagierte, sondern auch Fernstehende.
Frage: Sie sprechen meistens von bedrängten statt verfolgten Christen. Warum?
Seibel: Weil er nicht alle Situationen, in denen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit von Christen und Angehörigen anderer Religionen verletzt wird, trifft, und der Gebrauch dann ungenau und für die Betroffenen nicht hilfreich ist. Das kann man gut am Bespiel von Pakistan und den Blasphemie-Gesetzen erläutern. Wenn ein Muslim und ein Christ gemeinsam ein Geschäft eröffnen und diese gut läuft, dann kommt es vor, dass der christliche Geschäftspartner nach einiger Zeit aus dem Unternehmen gedrängt werden soll. Das passiert mit Hilfe der Drohung, ihn wegen angeblicher Blasphemie anzuzeigen. Der Christ wird also nicht wegen der Ausübung seines Glaubens bedrängt, sondern aus ökonomischen Interessen. In Pakistan werden aber auch Muslime und Angehörige anderer Glaubensrichtungen der Blasphemie angeklagt. Unter dem Missbrauch des Gesetzes leiden also alle Menschen. Schließlich sagen uns aber auch unsere Partner in Pakistan, dass wir im Westen nicht von "verfolgten Christen" sprechen sollten. Die Christen sind dort zwar eine zahlenmäßige Minderheit, fühlen sich aber als gleichwertige Bürger und wollen nicht in eine Art Opferrolle gedrängt werden, die es Fundamentalisten einfacher macht, sie auszugrenzen. Wir wollen nicht in diese Falle tappen, die uns die Fundamentalisten stellen.
Frage: Also gibt es keine verfolgten Christen?
Seibel: Selbstverständlich gibt es auch Situationen, in denen Christen nach klassischen Kriterien verfolgt sind. Das gilt zum Beispiel für Nordkorea. Oder für ideologische Gruppierungen wie den sogenannten sunnitischen Islamischen Staat, in dessen Machtbereich Christen – und übrigens auch Schiiten sowie gemäßigte sunnitische Muslime – allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder Glaubenspraxis als sogenannte Ungläubige definiert und verfolgt werden. Gerade deshalb muss man die Begriffe Verfolgung, Bedrängnis und soziale Diskriminierung sorgfältig differenzieren und verwenden, um den Situationen und Menschen in den jeweiligen Ländern gerecht zu werden und ihnen nicht noch zu schaden. Da haben wir im Westen eine große Verantwortung. Schließlich müssen wir auch aufpassen, dass die Rede von verfolgten Christen in Deutschland innenpolitisch nicht instrumentalisiert wird und zu einer Polarisierung zwischen den Religionen führt. Deshalb gehen wir mit dem Begriff der "verfolgten Christen" vorsichtig um und versuchen stattdessen, mit unseren kirchlichen Partnern vor Ort abzusprechen, wie wir uns mit Blick auf Verletzungen der Religionsfreiheit in ihrer Heimat verhalten sollen, um ihnen auch tatsächlich zu helfen.
Frage: Es gibt aber auch Stimmen, die fordern, genau hinzuschauen und die Dinge beim Namen zu nennen…
Seibel: Genau das tun wir, wir schauen genau hin. Wir bezeichnen Fälle sozialer Diskriminierung als soziale Diskriminierung und Fälle von Verfolgung als Verfolgung. Das ist nicht naiv, sondern realistisch. Menschenrechte wie das der Religionsfreiheit können nur glaubwürdig verteidigt werden, wenn man beachtet, dass sie unteilbar sind. Sie gelten für alle Menschen, Ethnien und Religionen. Wenn wir im Westen das Recht auf Religionsfreiheit für Angehörige aller Religionen einfordern, helfen wir Christen damit am besten. Wir als katholisches Hilfswerk sind natürlich zuerst für unsere christlichen Brüder und Schwestern da, aber eben wegen der Unteilbarkeit der Menschenrechte nicht exklusiv für Christen.
Frage: Warum tun dann die Regierungen der europäischen Länder so wenig, um diese Menschenrechte durchzusetzen?
Seibel: Das Europäische Parlament und die Europäische Union sind sehr aktiv in der Arbeit für Religionsfreiheit. Seit einigen Jahren werden Resolutionen auch für bedrängte Christen verabschiedet. Der Vatikan arbeitet erfolgreich hinter den Kulissen. Auch die Bundesregierung ist für Anliegen der Religionsfreiheit sehr offen. Pauschal zu sagen, dass wir in Europa zu wenig tun, stimmt meiner Meinung nach nicht. Allerdings gibt es Regierungen wie die im laizistischen Frankreich oder Belgien, die sich mit dem Thema schwertun. Eine andere Frage ist die nach dem Umgang mit Flüchtlingen – aktuell etwa aus Syrien, Irak und afrikanischen Ländern, in denen die Instrumentalisierung von Religion zu den Fluchtursachen gehört. Hier können die europäischen Regierungen in der Tat wesentlich mehr tun.
Frage: Kann auch der Einzelne in Europa mehr tun? Wenn ja, was?
Seibel: Ganz banal: Allein eine Petition zu unterschreiben, mag wenig erscheinen. Aber man sieht, dass dabei doch etwas herauskommt. Im Fall von Asia Bibi sind dadurch – und nicht allein die von Missio – Diskussionen darüber entstanden, was Religionsfreiheit bedeutet und warum sie wichtig ist. Auf unserer Petitionsplattform haben sich Unterzeichner darüber ausgetauscht, warum sie Asia Bibi unterstützen. Das ist ein wichtiger Bewusstseinsprozess. Was dann noch fehlt, ist der Schritt zum tatsächlichen Engagement. Es ist meiner Meinung nach für die Christen an der Basis in Deutschland noch Luft nach oben: In Kirchengemeinden, an Hochschulen oder auch in Gebetsgemeinschaften können Aktionsgruppen für Religionsfreiheit und bedrängte Christen gegründet werden, um das Thema in ihr lokales Umfeld zu tragen. Es gibt noch viele ungenützte Möglichkeiten, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Frage: Welchen Beitrag leistet Missio über die Petition für Asia Bibi hinaus für die Religionsfreiheit?
Seibel: Missio lädt immer wieder Gäste aus der Weltkirche ein, die über Bedrängnis aus eigener Anschauung reden können – zuletzt etwa Theophilus Bela, ein katholischer Menschenrechtler aus Indonesien, der in sechs Diözesen unterwegs war. Außerdem wollen wir Workshops für interessierte Menschen anbieten. Bei uns kann man Menschenrechtsstudien oder Länderberichte beziehen. Dann kann man mit unserer "Aktion Lebenszeichen" Gottesdienste oder andere Aktionen gestalten. Ich glaube, das ist der Weg: Gruppen vor Ort, die Religionsfreiheit weltweit zum Thema machen. Sie können beispielsweise ihren Bundestags- oder Landtagsabgeordneten ansprechen, um sie für die Unterstützung der Religionsfreiheit oder bedrängter Christen zu gewinnen. In der Politik geschieht schon einiges, aber an der Basis kann sich noch viel mehr tun als bisher.