"Nur über Arbeit richtig integriert"
Frage: Herr Bischof Overbeck, das Arbeitslosengeld II – auch Hartz IV genannt – wird zehn Jahre alt. Wie fällt ihr Fazit als Sozialbischof aus?
Franz-Josef Overbeck: Mein Fazit ist ambivalent: Auf der einen Seite beförderte die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, so dass man sagen könnte, ohne diese unpopulären Maßnahmen stünde Deutschland im Europavergleich und auf dem Weltmarkt viel schlechter dar. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob das Motto "fördern und fordern" hin und wieder nicht auch dazu benutzt wurde, von schwierigen Einzelsituationen abzulenken, manche Kürzungen schön zu reden und neuer Benachteiligung Vorschub zu leisten. Da nun nicht mehr Statussicherheit gewährleistet wird, steigt der Druck, überhaupt Arbeit aufzunehmen und hier gibt es viele persönliche Härten und neue Gefahren einer "Spirale nach unten", was langfristig neue Probleme erzeugen wird.
Frage: Am deutschlandweit größten Sozialgericht in Berlin sind seit 2005 knapp 216.000 Verfahren im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktreform eingegangen. Was sagt das über Hartz IV aus?
Overbeck: Die hohe Zahl von Klagen verweist darauf, wie gravierend der Einschnitt in das System war, wie viel Unsicherheit durch die Veränderungen auf Seiten der Verwaltungen genauso wie bei den Beziehern entstanden ist. Es ist das Recht eines jeden, seine berechtigten Ansprüche auch einzuklagen. Gerade bei Hartz-IV-Empfängern geht es ja nicht um "Peanuts", jeder Euro mehr oder weniger hat in dieser Situation sofortige Effekte in der Lebensführung und in der persönlich gegebenen Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren.
Frage: Ein Ziel von Hartz IV war es, möglichst viele Menschen in "Lohn und Brot" zu bringen. Auch die Kirche erkennt das Recht auf Arbeit an. Begrüßen Sie daher das Motto "Lieber eine schlecht bezahlte Arbeit, als gar keine Arbeit"?
Overbeck: Eines steht fest: In unserer Arbeitsgesellschaft – und die sind wir trotz zunehmender Medien-, Wissens- und Freizeitorientierung immer noch prioritär – sind wir richtig integriert nur über Arbeit und hierdurch geleistete Produktivität. Wenn wir allein die Schwierigkeiten mit der gesellschaftlichen Anerkennung der Leistungen der Familienarbeit sehen, wird dies deutlich. Soziale Sicherheit hängt immer noch direkt mit Erwerbsarbeit zusammen, so sind das Rentensystem, die Pflege- und Krankenversicherung darüber finanziert. Ich persönlich empfinde die unterschiedlichen Modelle des sogenannten "bedingungslosen Grundeinkommens" vor diesem Hintergrund als diskriminierend. Wir sollten keine Menschen abschreiben. Die gesellschaftliche Dynamik lebt doch davon, dass für jeden zumindest prinzipiell die Chance besteht, durch eigene Anstrengung Aufstiegsmöglichkeiten zu realisieren. Das christliche Menschenbild geht zunächst von der Eigenverantwortung der Personen aus. Wir können andersherum auch nicht auf die Produktivität von Menschen verzichten. Aber natürlich gibt es auch Grenzen der Zumutbarkeit und das hat mit der Menschenwürde zu tun. Meiner Meinung nach muss Vollzeitarbeit, also eine Anstellung mit 40 Wochenstunden existenzsichernd entlohnt werden. In einer hochentwickelten Gesellschaft wie der unsrigen müsste das besser organisiert sein.
„Mindestlohn ist weder ein Allheilmittel noch der Untergang des Abendlandes.“
Frage: Inwieweit hat die Kirche selbst von der Liberalisierung des Arbeitsmarktes profitiert?
Overbeck: Es mag Effekte gegeben haben, dass durch ein gestiegenes Arbeitsvolumen auch unsere Mitgliedsbeiträge gestiegen sind, die ja als sogenannte Kirchensteuern auch an der Erwerbsarbeit hängen. Im Bistum Essen hat sich das aber nicht so sehr ausgewirkt.
Frage: Zum Jahresbeginn wurde in Deutschland der Mindestlohn eingeführt. Eine nötige Korrektur von Hartz IV oder der falsche Schritt?
Overbeck: Eigentlich und grundsätzlich besteht in Deutschland die Tarifautonomie. Es hat einen großen Wert, wenn nicht der Staat jeden Bereich des Daseins regelt, sondern die Betroffenen und ihre jeweiligen Organisationen selbst dies tun. In den Fällen, wo dieser Grundsatz infrage gestellt ist, kann es eine subsidiäre Aufgabe des Staates werden, nötige Regelungen zu treffen. Das Kriterium ist hierbei die Menschenwürde, die vor Ausbeutung schützen soll und die auch dann durchgesetzt werden muss, wenn am Markt Lohndumpingwettbewerbe vorherrschen. Manche Dienstleistungen werden durch Mindestlöhne teurer – das ist aber unter Umständen im Namen der Gerechtigkeit und der Idee der Sozialen Marktwirtschaft hinzunehmen. In der Debatte über Mindestlöhne schwingt viel Ideologie mit: Mindestlohn ist weder ein Allheilmittel noch der Untergang des Abendlandes. Die marktwirtschaftliche Ordnung als ganze wird auch nicht durch Mindestlöhne gefährdet, wie man seit Jahren und Jahrzehnten an den existierenden Mindestlöhnen in kapitalistischeren Nationen, wie den USA oder Großbritannien sieht.
Frage: Hartz IV bedeutet ja häufig nicht nur für den Empfänger selbst einen gesellschaftlichen Abstieg, sondern auch für dessen Kinder. Wird Armut also vererbt?
Overbeck: Es ist ein großes Problem, dass unser Bildungssystem offensichtlich nicht in der Lage ist, eine problematische soziale Herkunft zu kompensieren. Neben der familialen Erziehung hat das Bildungssystem die Funktion, für die gesellschaftliche Platzierung zu sorgen. Es gibt tatsächlich so etwas wie vererbte Hartz-IV-Karrieren. Das spezifische Gerechtigkeitsproblem liegt darin, dass man hinsichtlich der betroffenen Kinder wirklich nicht von Chancengleichheit sprechen kann. Über besondere Bildungsanstrengungen hinaus müssten auf kommunaler Ebene neue Initiativen gestartet werden bei der Gestaltung von Wohnquartieren und der Verhinderung von Segregation. Es geht um die Schaffung lebenswerter und leistungsanreizender Umfelder, die dann auch die Durchlässigkeit steigern.
Frage: Der Papst kritisiert immer wieder die soziale Ungerechtigkeit. Wo sehen Sie soziale Ungerechtigkeit in Deutschland?
Overbeck: Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit habe ich gerade genannt, die Abhängigkeit des Bildungserfolgs und damit des Karriereeinstiegs vom sozialen Status des Elternhauses. Dieses sage ich besonders auch als Ruhrbischof mit Blick auf ganze Stadtteile, denen man als junger Mensch gar nicht mehr entkommen kann. Hier müssen wir viel mehr tun! Eine andere nicht zu akzeptierende Ungerechtigkeit liegt darin, dass unser Rentensystem die Kinderlosen bevorzugt und den generativen Beitrag der Familien zur Zukunftssicherung unserer Gesellschaft nicht ausreichend berücksichtigt. Die Folgen dieses langjährigen Konstruktionsfehlers werden immer offensichtlicher.
Frage: Was tut die Kirche gegen soziale Ungerechtigkeit? Gibt es Beispiele aus ihrem Bistum?
Overbeck: Als Kirche sind wir eine organisierte Glaubensgemeinschaft, in der es neben dem eigenen Bekenntnis und der Feier unseres Glaubens am Sonntag und in den vielfältigen Liturgien des Alltags um der Glaubwürdigkeit willen immer auch um die soziale Dimension geht. Immer wieder weisen wir öffentlich auf Missstände hin und stehen dafür in Kontakt mit den politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Soweit unsere eigenen Mittel es zulassen, sind wir auch selbst aktiv. Im Bistum Essen gibt es zum Beispiel Jugendberufshilfen und Arbeitslosentreffs, die unter anderem von den Sozialverbänden Kolping und KAB unterhalten werden, aber auch der Caritasverband leistet vielfältige Soziale Arbeit und Beratungsdienste, und in Gemeinden gibt es Sozialinitiativen, mit denen vielen Menschen ganz konkret geholfen wird.
Das Interview führte Björn Odendahl