"Ohne Christentum verliert Europa seine Seele"
Wenn Europa überleben wolle, müsse es "ganz bewusst wieder seine Seele suchen". Vom April 2005 stammt dieser Weckruf von Joseph Ratzinger. Wenige Tage bevor der Kardinal aus dem Konklave als Papst Benedikt XVI. hervorging, waren Auszüge aus seinem Buch "Werte in Zeiten des Umbruchs" veröffentlicht worden. Die gläubigen Christen rief er darin auf, sich als schöpferische Minderheit zu verstehen: "Sie sollten dazu beitragen, dass Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient." Bis heute treibt dieses Thema das emeritierte Kirchenoberhaupt um.
Anlässlich des 90. Geburtstags von Benedikt XVI. lud am Wochenende in München die Katholische Akademie in Bayern zu einer Tagung ein mit dem Titel "Europa - christlich?!" Mitveranstalter waren das Institut Papst Benedikt XVI. und die Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.-Stiftung.
Marx über den christlichen Schatz Europas
Den Auftakt machte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Als Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE) wird er nicht müde, für den europäischen Gedanken zu werben. Geht es doch darum, deutlich zu machen, welchen Schatz "wir als Christen für Europa einzubringen haben". Dazu zähle, dass alle Menschen als Kinder Gottes in der Lage seien, aufeinander zuzugehen. Denn das Christentum sei eine "vernunftgeleitete Aufklärung".
Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio sagte, Europa suche derzeit seine "Idee". Die historischen, philosophischen und religiösen Wurzeln seien aus dem Blick geraten. Am Anfang eines gemeinsamen Europas habe die rein funktionale Idee eines Binnenmarkts gestanden. Doch auf Dauer sei ein so zweckrationaler Kern zu wenig. Erreicht werden müssten wieder die Herzen der Menschen.
Europa braucht spirituelle Ressourcen
Europa sei heute der Kontinent, in dem niemand zum Glauben gezwungen werde, betonte Thomas Söding. Für den Bochumer Neutestamentler steckt darin die Chance, dennoch "auf den Glauben zu setzen, ohne das Fragen zu vergessen, auf das Fragen, ohne das Glauben zu verdrängen". Diese Chance werde jedoch verspielt, wenn die Kirchen selbst nicht miteinander versöhnt seien. Noch immer fehle es an einer klaren Stimme der vereinten Christenheit in Europa. Ohne christliche Politiker wie Schumann, de Gasperi und Adenauer hätte es die europäische Friedensunion nicht gegeben. "Ohne Christentum verliert Europa seine Seele", mahnte der Theologe. Mit ihm aber könne es sich wieder zu einer Wertegemeinschaft entwickeln. Europa brauche die spirituellen und ethischen Ressourcen dringender denn je.
Linktipp: Marx: Rückzug auf das Nationale ist nicht christlich
Die Europäer müssen sich stärker für Demokratie und Pluralismus einsetzen, fodert Kardinal Reinhard Marx. Der Kontinent habe derzeit ein großes Problem mit Populismus - und das nicht nur von Rechts.Andrej Cilerdzic, serbisch-orthodoxer Bischof für Österreich, die Schweiz und Italien, setzt auf die Ökumene. Nur gemeinsam könnten die Kirchen helfen, gesellschaftliche und politische Konflikte zu entschärfen. Wenn sie zeigten, dass Dialog empfindliche Gegensätze überwinden könne, könnte sich die Ökumene entscheidend auswirken auf die Suche der Welt nach tragfähigen Formen für eine friedfertige Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Gottfried W. Locher, Geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, stimmte zu, doch forderte er auch Ehrlichkeit in der Sache. Denn wenn die Kirchen von Einheit und Einheitssuche sprächen, redeten sie meist von etwas, was sie nicht eine, sondern trenne.
Macht bekommt keiner Religion
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff betonte, dass in Bezug auf Europa "viel" für die Christen spreche. Sie erinnerte aber auch an die geschichtlichen Abgründe des Christentums. Die Verschwisterung mit der Macht sei den Christen nicht bekommen. "Sie bekommt keiner Religion." Politisierung der Religionen stifte nur Unheil.
Für den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags, Johannes Singhammer (CSU), steht fest, dass Europa wieder seine Sinnhaftigkeit entdecken müsse. Schon Johannes Paul II. habe nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme gefordert, Europa müsse seine Wurzeln wiederfinden. Nach dem Maßstab seiner Ideale müsse es seine Zukunft aufbauen. Benedikt XVI. habe den Weg dorthin präzise beschrieben, so Singhammer. Dafür gelte es ihm "Vergelt's Gott" zu sagen.