Opus Dei: "Es war ein Auftrag Gottes"
Frage: Herr Vilar, wann haben Sie Josemaría Escrivá das erste Mal persönlich getroffen und welchen Eindruck hat er da auf Sie gemacht?
Vilar: Ich bin 1958 dem Opus Dei beigetreten und habe Escrivá zum ersten Mal 1960 in Madrid getroffen. Er hielt dort für Angehörige des Werks eine Messe, und ich war am Tag zuvor mit einer Gruppe von älteren Mitgliedern bei ihm eingeladen. Es hat mich sehr beeindruckt, dass er mit allen persönlich gesprochen und sich wirklich für jeden Einzelnen interessiert hat. Natürlich war ich damals auch ein wenig eingeschüchtert, da ich den Gründer zum ersten Mal "live" sah. (lacht) Von 1964 bis 1967 lebte ich dann zur Promotion, danach als Mitarbeiter im Zentralsitz des Opus Dei in Rom. Im selben Haus wohnte auch Escrivá, sodass ich ihn ab da fast täglich sah und gut kennenlernte.
Frage: Was für ein Mensch war er?
Vilar: Zum einen habe ich an ihm geschätzt, dass er sehr herzlich mit den Menschen umgegangen ist. Er liebte das ungezwungene Beisammensein und hat sich, wann immer er konnte, in Rom mit uns zusammengesetzt und mit uns über Gott und die Welt gesprochen. Er war dabei nicht abgehoben, sondern sehr persönlich, und hat in den Gesprächen auch eine gute Portion Humor gezeigt. Wir haben viel gelacht. Außerdem hatte er eine große Menschenkenntnis und konnte sich gut in die Lage anderer versetzen. Fasziniert hat mich natürlich vor allem auch seine übernatürliche Sicht der Dinge.
Frage: Was meinen Sie mit "übernatürlicher" Sicht?
Vilar: Er sah stets einen Bezug zwischen Himmel und Erde. Nicht nur im Beten, in der Frömmigkeit. Escrivá betonte immer, dass auch die normalen Dinge des Alltags für einen getauften Christen Wege zur Heiligkeit sind. Das ist der Kerngedanke hinter dem Opus Dei: die Arbeit, die Familie, den Alltag zu heiligen.
Frage: Was bedeutet das?
Vilar: Das bedeutet, dass man eine Einheit schafft zwischen der Frömmigkeit einerseits und der Arbeit, dem weltlichen Leben andererseits. Für viele Menschen existiert ein Graben zwischen ihrer Spiritualität und dem Alltag. Doch die ganz normalen Dinge stehen nicht abseits von Gott. Man soll im Alltag sein Christsein ernstnehmen und Zeugnis von seinem Glauben geben. Selbst Verantwortung übernehmen und nicht warten, bis andere etwas machen. Die Arbeit und die kleinen Dinge des Alltags soll man gut machen und alles Gott aufopfern, denn das ist ein Weg, mit Gott zusammen zu sein. Escrivá sagte immer: "Eine Stunde Studium ist eine Stunde Gebet." Und wenn wir arbeiten, ahmen wir nicht zuletzt das Leben Christi und seiner Familie nach – das verborgene Leben Jesu.
Frage: Was ist mit dem "verborgenen" Leben Jesu gemeint?
Vilar: Aus der Bibel wissen wir, dass Jesus etwa zweieinhalb Jahre seines Lebens öffentlich gewirkt hat. Wenn man nachrechnet, kommt man darauf, dass fast 93 Prozent des Lebens Jesu im Dunkeln liegen, also verborgen sind. Und was hat er in dieser Zeit getan? Zusammen mit seiner Familie in Nazaret gelebt und gearbeitet. Für Escrivá war klar: Das muss eine Bedeutung haben. Das Leben und die Arbeit Jesu, Marias und Josefs sind für uns Beispiele der Heiligkeit. Und jeder Christ ist berufen zur Heiligkeit, wie auch das Zweite Vatikanische Konzil sagt. Gut arbeiten, die Familie pflegen: Das kann für mich eine Verbindung zu Gott sein und lässt mich in Einklang mit ihm leben.
Frage: Escrivá sprach von einer "Offenbarung", die zur Gründung des Opus Dei im Jahr 1928 führte. Wissen Sie mehr darüber?
Vilar: Es war ein Auftrag Gottes. Man könnte auch sagen: Escrivá sah sich gezwungen, das Opus Dei zu gründen. Ursprünglich wollte er nicht Priester werden. Mit 15 Jahren hatte er dann ein Erlebnis in seinem Heimatort. Er sah im bitterkalten Winter einen Unbeschuhten Karmeliten barfuß durch den Schnee stapfen. Und Escrivá fragte sich: "Wenn Leute fähig sind, für Gott so etwas zu machen, was soll ich dann tun?" Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er spürte, dass Gott etwas wollte, aber wusste nicht, was. Bei Exerzitien im Jahr 1928 sah er dann eines Morgens plötzlich das Opus Dei vor seinen Augen. Er sah nicht Gott in seiner Vision, sondern wie Laien und Priester in einer Institution zusammenwirken. Nun wusste er, was sein Auftrag war.
Frage: Und was war dabei ein Zwang?
Vilar: Escrivá wollte das Opus Dei zunächst nicht selbst gründen. Er suchte nach einer Organisation, in der Laien und Priester gemeinsam an der Heiligung der Arbeit, des Alltags arbeiten. Aber so etwas gab es nicht. Daher hat er sich gezwungen gefühlt, den göttlichen Auftrag mit der Gründung des Opus Dei zu erfüllen. In dem Bewusstsein, dass jeder Getaufte zur Heiligkeit berufen ist, lebten schon die frühen Christen. Das Opus Dei sollte die Organisation werden, die daran erinnert und die zeigt, wie die Heiligung des Alltags funktioniert. Escrivá hat immer betont: "Das ist nicht meine Spiritualität, sondern das, was Gott mir gegeben hat."
Frage: Nicht seine Spiritualität?
Vilar: Er hat diesen Geist natürlich übernommen und ihn lebendig weitergegeben.
Frage: Wie?
Vilar: Einerseits konnte er sehr milde sein, beispielsweise in den vielen ausführlichen Gesprächen, die wir geführt haben. Andererseits konnte er, was die Arbeit betrifft, auch sehr fordernd sein und schon mal laut werden. Ihm ging es wirklich darum, dass die Arbeit ordentlich und gottgefällig erledigt wird. Seine eigene Arbeitsweise war dabei phänomenal. Ich habe zum Beispiel oft beobachtet, wie er die tägliche Post abarbeitet. Obwohl das meistens ein riesiger Stapel an Briefen war, konnte er sie in wenigen Minuten durcharbeiten, ohne etwas zu vernachlässigen. Er las etwas und zog sofort die nötigen Schlüsse und gab Anweisungen. Die Geschwindigkeit, in der er etwas verstand, und sein erstaunliches Gedächtnis kann man sich kaum vorstellen.
Frage: Wie sah es in spirituellen Dingen aus?
Vilar: Auch was die Frömmigkeit betrifft, war er uns ein Vorbild. Ich erinnere mich daran, wie wir einmal Escrivás Geburtstag feierten – 1965 oder 1966. Ein junger Amerikaner, der bei uns im Haus lebte, hatte Escrivá vorher erzählt, dass es in seiner Heimat USA üblich sei, an Geburtstagen zwei Nachtische zu servieren. Und so gab Escrivá der Küche die Anweisung, auch an seinem eigenen Geburtstag zwei Nachtische zu machen. Obwohl er selbst gerne etwas Süßes aß, rührte er das Dessert jedoch nicht an. Er erzählte mir leise, dass sein Beichtvater ihm erlaubt habe, an diesem Tag zu fasten. Alle bekamen also Eis und noch etwas Süßes dazu und Escrivá fastete an seinem eigenen Geburtstag. Für mich war er durch sein Vorbild schon zu Lebzeiten ein Heiliger.
Frage: Trotzdem gab es immer wieder auch Kritik an Escrivá. Er habe einen Personenkult um sich betrieben, blinden Gehorsam gefordert oder dem Franco-Regime nahegestanden. Was ist dran?
Vilar: Leider ist diese falsche Sicht weit verbreitet. Einen "Personenkult" gab es zu keiner Zeit. Natürlich war er der Gründer und ein lebendiges Beispiel dafür, wie der Geist des Opus Dei gelebt werden konnte. Aber er hat immer wieder gesagt: "Ihr müsst das nicht so machen, wie ich es mache." Außerdem war seine Liebe zur Freiheit sehr stark. In den 1930er-Jahren wurden aufgrund des Antiklerikalismus in Spanien viele Priester verfolgt. In den 1940ern unter Franco war das nicht mehr so: Kirche und Regime konnten gut nebeneinander leben. Trotzdem wurde Escrivá genau beobachtet. Warum? Weil er zu viel über Freiheit gesprochen hat. Dem politischen Monopol Francos war das ein Dorn im Auge.
Frage: Escriva und Franco sollen sich aber mehrmals getroffen haben und das Opus Dei wird dem Regime gegenüber eher als loyal eingestuft.
Vilar: Escrivá hat immer betont, dass in der Politik jeder frei ist zu denken, was er will. Es gab zwischen dem Regime und dem Werk vordergründig keine Probleme, das ist richtig. Manche Mitglieder waren sogar in der Politik tätig. Ich kenne aber auch Leute von Opus Dei, die es im Spanien Francos nicht ausgehalten haben und ins Exil gingen. Escrivá selbst war ein vollkommen unpolitischer Mensch. Er galt schon vor dem Krieg in Spanien als "der Priester, der sich nicht in die Politik einmischt".
Frage: In der Kritik steht bis heute auch das Opus Dei selbst: Da liest man von erzkonservativer Elitetruppe, sektenähnlichen Verhältnissen, Selbstgeißelungen. Woher kommt das Negativimage?
Vilar: Escrivá und das Opus Dei waren von Anfang an vielen Schwierigkeiten ausgesetzt. Da gab es Leute, die zu den Eltern von Opus-Dei-Mitgliedern gingen: "Ihr Sohn ist in eine Sekte gegangen, er lebt in einer Häresie." Viele Gerüchte wurden gestreut, um Druck auf Escrivá auszuüben, das Opus Dei wieder aufzulösen. Er sagte uns damals nur: "Die Feinde der Kirche werden diese Dinge immer wieder über uns sagen." Und bis heute werden die alten Geschichten tatsächlich immer wieder hochgekocht.
Frage: Aber es muss doch Gründe dafür geben.
Vilar: Natürlich ist das Opus Dei in den Augen mancher Leute auch gefährlich. Denn was wäre, wenn auf einmal alle Laien die Heiligkeit im Alltag und das persönliche Apostolat ernstnehmen würden? Wenn alle Katholiken in dieser Verantwortung leben würden, würden sich Dinge radikal ändern – gesellschaftlich und politisch. Das würde natürlich denen nicht passen, die der Kirche und dem Glauben fernstehen.
Frage: Also sind alle Kritikpunkte nur angedichtet?
Vilar: Zumindest ist vieles angedichtet. Natürlich macht aber jeder einmal Fehler. Ich bestreite nicht, dass das Opus Dei auch Kinderkrankheiten hatte. Früher haben wir uns zum Beispiel in Deutschland vielleicht etwas zu sehr zurückgezogen. So entstand der Eindruck, dass wir etwas geheim halten wollen.
Frage: Haben Sie selbst schon einmal Probleme bekommen, weil Sie Opus-Dei-Mitglied sind?
Vilar: Viele Menschen sind auch heute noch voreingenommen. Wir sind daran gewöhnt, dass man uns immer wieder beschimpft. Das macht die Arbeit natürlich nicht leichter. Aber ich habe mir inzwischen eine dicke Haut zugelegt. Man muss einfach Geduld haben und den Menschen deutlich machen, um was es uns wirklich geht.