Vier Stunden im Beichtstuhl
Frage: Welche Aufgaben haben Sie als Pilgerseelsorger in Santiago de Compostela?
Hagmann: Von Mai bis Oktober sind wir in Santiago immer als Seelsorgeteam zu dritt da. Für mich beginnt der Tag immer mit einem Gottesdienst um acht Uhr in der Capilla de Burgos für unsere deutschsprachigen Pilger. Danach sitze ich für zwei Stunden im Beichtstuhl. Später bin ich dann bei der großen Pilgermesse in der Kathedrale, danach tauschen wir uns mit den Pilgern im Internationalen Pilgerzentrum aus. Nachmittags sitze ich dann wieder zwei Stunden im Beichtstuhl. Abends bieten wir dann auch einen spirituellen Rundgang um die Kathedrale an.
Frage: Sie verbringen in Santiago täglich vier Stunden im Beichtstuhl?
Hagmann: Ja, das ist nicht ungewöhnlich für so einen großen Wallfahrtsort. Jährlich kommen über 220.000 Pilger nach Santiago und damit steigt auch das Bedürfnis nach einer Aussprache mit einem Priester. Dieses Jahr habe ich die Beichte in deutscher und englischer Sprache angeboten. Ich bin oft sehr betroffen von dem, was Menschen mir aus ihrem Leben erzählen und welche schweren Lasten manche im Rucksack mit sich herumtragen. Es sammelt sich auf so einem Pilgerweg einiges an Ballast an, daher tut es gut, alles mal loszulassen und mit jemandem darüber sprechen zu können. Viele sind froh, dass sie auch in der Beichte Vergebung und Zuspruch erfahren und befreit wieder heimgehen können.
Frage: Sind Sie denn so etwas wie ein seelsorglicher Müllschlucker?
Hagmann: Ich verstehe mich als Türöffner. Ich möchte den Menschen eine Tür aufmachen, durch die sie eintreten können, um endlich Frieden zu finden. Viele sind aufgebrochen, weil sie kaputte Beziehungen hinter sich haben, oder weil sie auf dem Weg etwas klären wollen oder sogar einen neuen Zugang zum Gebet finden möchten. Die Gründe warum Menschen sich auf den Weg machen sind so verschieden wie das Leben. Es gibt allerdings auch die, die in Santiago ankommen und total enttäuscht sind, weil sie keine großen Gefühle hier am Ziel verspüren oder weil ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden. Wichtig ist mir, dass wirklich jeder willkommen ist und so ankommen kann, wie er ist. Es berührt mich sehr, wenn jemand nach ganz langer Zeit wieder einmal den Weg in den Beichtstuhl sucht. Und in Santiago geschieht das jeden Tag.
Frage: Was ist das Besondere der Pilgerseelsorge?
Hagmann: Wir haben Zeit für die Menschen, viel Zeit. Wir rennen nicht weg, wir haben keine anderen seelsorglichen Termine, wir sind ganz für die Pilger da. Und wir können warten. Ich finde, es ist wichtig, dass wir die Pilger erwarten. Die Menschen sollen spüren, dass sie willkommen sind. Für viele deutschsprachigen Pilger ist es ein echtes Bedürfnis, endlich wieder die Heilige Messe in ihrer Muttersprache zu feiern, weil sie auf dem Camino oft genug vor verschlossenen Kirchentüren standen. Manche erzählen, dass sie durch das Mitfeiern im Gottesdienst besonders angesprochen werden. Wir erleben in der Pilgerseelsorge eine große Bandbreite von Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen und erleben tagtäglich was es heißt, Freude und Leid mit den Menschen zu teilen. Ich denke jetzt an das Paar, das seinen Hochzeitstag in der Kathedrale feiert. Oder Pilger, die stellvertretend für andere unterwegs sind. Eltern gehen für ihre Kinder, ein Frau für ihre krebskranke Freundin oder andere, die für den Frieden in der Welt unterwegs sind. Der Jakobsweg hat Platz für unendlich viele Sorgen, Anliegen und Bitten.
Frage: Für manche ist das Pilgern auf dem Jakobsweg auch nur ein Event…
Hagmann: Das stimmt. Aber auch die Abenteuerlust und die sportliche Herausforderung gehören beim Pilgern dazu. Es gibt viele, die erzählen, dass sie als Wanderer aufgebrochen sind und als Pilger ankamen. Das heißt, sie haben anfangs überhaupt keine spirituelle Motivation gehabt, loszugehen. Während des Gehens merken sie dann aber, dass der Weg etwas mit ihnen macht. Dieser Weg ist keine Fun-Meile, dieser Weg ist ein Ort der Begegnung. Wir als Seelsorger begleiten all die, die suchen und fragen und die, die vielleicht gar nicht wissen, was sie suchen. Pilgerseelsorge geschieht am Weg. Schön, wenn dann jemand erzählt, dass er durch unsere Angebote Gott ein Stückchen näher gekommen ist.
Fragen: Passieren in Santiago auch Wunder?
Hagmann: Es kommt darauf an, was man unter Wunder versteht. Wunder oder religiöse Erfahrungen kann man nicht machen. Man kann nur dafür sorgen, dass sich die Menschen innerlich öffnen können und dann die vielen Spuren Gottes in der Welt und im eigene Leben entziffern lernen. Schön ist, dass die Pilgerpforte der Kathedrale in Santiago tagsüber immer geöffnet ist, wie eine Herbergstüre nach einer anstrengenden Tagestour. Seit Jahrhunderten gibt es den Brauch, dass die ankommenden Pilger den heiligen Jakobus in der Kirche umarmen. Das ist ein uraltes Ritual, vielleicht auch um körperlich zu spüren, dass man umarmt und geliebt ist.
Fragen: Was fasziniert Sie an diesem Weg?
Hagmann: Die Spanier sagen, wenn man den Jakobsweg einmal gegangen ist, dann macht man eine Tür auf, die sich nicht mehr schließen lässt. Das heißt, einmal Pilger immer Pilger. Seit 1990 bin ich selbst auf diesem Weg unterwegs und komme davon nicht mehr los. Es ist das Unterwegssein was mich daran fasziniert, aber auch das einfache Leben. Ich entschleunige und finde Ruhe in der Alltagshektik, das tut mir unendlich gut. Ich bin viel draußen und treffe die unterschiedlichsten Menschen aus der ganzen Welt. Zum Beispiel: Ein Großvater aus der Pfalz hatte sich mit seiner achtjährigen Enkelin auf den Pilgerweg gemacht. 400 Kilometer lang waren die beiden unterwegs. Was für eine Freude und Stärke die beiden ausgestrahlt haben, faszinierend. Der Jakobsweg begeistert Jung und Alt. Es ist für mich jedes Mal ein Geschenk, diesen Weg gehen zu können, den schon so viele Menschen vor mir gegangen sind. Ich erfahre auf dem Weg, dass ich teil einer grandiosen Geschichte bin
Frage: Ist der Camino nicht auch eine große Chance für die Kirche?
Hagmann: Ja, wenn wir unterwegs sind, sind wir eine Kirche, die zu den Menschen hingeht und mit ihnen geht. Das ist Seelsorge auf dem Weg. Wir suchen gemeinsam nach neuen Wegen und wir treffen Menschen, die vielleicht nicht so binnenkirchlich orientiert sind. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance für die Kirche. Dieser Jakobsweg ist der Weg einer ganz großen Sehnsucht. Wo Sehnsucht, da gibt es Erfüllung, aber auch Enttäuschung. Und all das sollen wir mit den Menschen teilen und mit ihnen auf dem Weg zu Gott hin bleiben. Auf jeden Fall transportiert dieser Weg mit so vielen suchenden Menschen eine große Hoffnung.