Räumen für Olympia
Ein Bulldozer reißt eine Hausfront ein. Dahinter kommen die Möbel zum Vorschein; die Bewohner protestieren lautstark gegen die Zerstörung. Zwar sei es selten, dass die verantwortlichen Baufirmen selbst zu solch extremen Mittel griffen, mein Raquel Rolnik, Professorin an der Universität Sao Paulo und UN-Sonderberichterstatterin für angemessenes Wohnen. Doch der Vorfall in einem westlichen Vorort von Rio de Janeiro zeige, wie weit der Konflikt gehen könne.
Rio hat gewaltige Aufgaben zu bewältigen. Zum einen soll die Stadt zahlreiche Spiele der Fußball-WM austragen, darunter das Finale. Gleichzeitig laufen die Arbeiten für Olympia an. Im westlichen Stadtteil Barra da Tijuca sollen ein riesiges Olympisches Dorf und zahlreiche Wettkampfstätten entstehen. Weichen müssen da zuerst mal die Armenviertel, die Favela-Slums, die oft schon seit Jahrzehnten in der Illegalität bestehen. Raquel Rolnik sind in den vergangenen Monaten Tausende Beschwerden zugekommen, nicht nur aus Rio. Auch in den WM-Städten Sao Paulo, Belo Horizonte, Curitiba, Porto Alegre, Recife, Natal und Fortaleza habe es Zwangsräumungen durch die Stadtverwaltung gegeben.
Ausweichen in andere Elendsquartiere
Zwar würden den Bewohnern in den meisten Fällen Entschädigungen oder Ausweichquartiere angeboten. Allerdings seien die Entschädigungen so gering, dass sich die Familien damit keine neue adäquate Wohnung leisten könnten. Zudem lägen die Ausweichquartiere oft "30 bis 40 Kilometer außerhalb der Städte, wo es weder Schulen, Krankenhäuser, öffentlichen Transport oder die Chance auf Arbeit" gebe. Viele Familien wichen in andere Elendsquartiere aus, manche würden obdachlos.
Damit verstoße Brasilien gegen internationale Menschenrechtsbestimmungen, meint Rolnik: "Wird eine Wohnung zwangsgeräumt, darf die betroffene Person zwischen einer finanziellen Entschädigung oder einer Alternativwohnung an einem anderen Ort wählen." Eine solche freie Wahl stehe den Betroffenen aber nicht frei. Zudem müsse die Regierung dafür sorgen, dass sich die Bewohner nicht schlechter stellen. "Schließlich geht es beim Wohnen ja nicht bloß um die vier Wände, sondern auch um das Recht der Menschen auf Arbeit und Gesundheit." Auch diese Rechte würden missachtet - ebenso wie das Mitspracherecht der Bevölkerung.
Keine offizielle Stellungnahme
Die UN-Berichterstatterin betont, auch nach brasilianischen Gesetzen hätten die Bürger ein Vorschlagsrecht für die Planung der Bauten und die Umsiedlung. Besonders schwer wiegt für Rolnik, dass bei den Arbeiten an den Sportstätten Transparenz vollkommen fehle. Es gebe keinerlei offizielle Informationen darüber, wann und wo gebaut werde, welche Häuser abgerissen werden müssten, wer betroffen sei. Oft werde der Räumungsbefehl praktisch "über Nacht" gegeben. Undurchsichtig sei selbst, wer denn die Räumungen überhaupt durchführe.
Neben der Polizei und Vertretern der Stadtverwaltung seien an den Aktionen auch private Sicherheitsfirmen und Personen beteiligt, "die überhaupt nicht zuzuordnen sind". Viele Favelas im Westteil Rios, wo am intensivsten gebaut wird, werden von illegalen Milizen kontrolliert. Sie sollen der Polizei nahestehen.
Zuvor hat Rolnik die Regierung in einem Schreiben über die Vorwürfe unterrichtet. Bislang habe es noch keine offizielle Stellungnahme gegeben. Zu Wort gemeldet hätten sich in Interviews lediglich der Sportminister, der Städtebauminister und die Ministerin für Menschenrechte. Alle drei verneinten laut Rolnik, von solchen Aktionen Kenntnis zu haben. Aber: "Vielleicht wissen sie ja wirklich nicht, was vor sich geht."
Von Thomas Milz