Reform der Pflegeversicherung
Dreh- und Angelpunkt ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Was so technokratisch klingt, hat große Auswirkungen: Denn er definiert, wer welche Leistungen erhält. Bislang wurden fast ausschließlich körperliche Einschränkungen berücksichtigt. Um der wachsenden Zahl Demenzkranker gerecht zu werden, soll künftig aber auch der besondere Hilfs- und Betreuungsbedarf von Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen bewertet werden. Die bisher drei Pflegestufen werden deshalb durch fünf so genannte Pflegegrade abgelöst. Der Eigenanteil, den Pflegebedürftige in Heimen zahlen müssen, soll gedeckelt werden und nicht mehr mit der Pflegestufe steigen.
Auf den letzten Metern hat Gröhe zudem eine deutlich bessere Absicherung für pflegende Angehörige in den Kabinettsentwurf eingefügt. Wer aus dem Beruf aussteigt, um sich um pflegebedürftige Verwandte zu kümmern, dem zahlen die Pflegekassen dauerhaft den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Bisher war dies nur für sechs Monate möglich. Auch die Beiträge für die Rentenversicherung übernehmen die Pflegekassen für Angehörige, die ein Familienmitglied an mindestens zwei Tagen pro Woche für zusammen mindestens zehn Stunden pflegen.
Die Reform ist kompliziert. Wenn das Gesetz im Januar 2016 in Kraft tritt, wird es noch weitere zwölf Monate dauern, bis die Änderungen umgesetzt sind und die Leistungen bei den Empfängern ankommen. Nötig ist dazu auch ein neues Begutachtungsverfahren, mit dem der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDS) künftig alle Empfänger von Pflegeleistungen einstuft. Dazu müssen auch die Gutachter fortgebildet werden.
Die bittere Pille: Die Reform kostet Milliarden. 2017 werden die Beiträge zur Pflegeversicherung um weitere 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent steigen. Anfang des Jahres war das erste Pflegestärkungsgesetz in Kraft getreten. Schon damit waren die Beiträge um 0,3 Prozentpunkte angehoben worden, unter anderem, um die häusliche Pflege durch mehr Tages- und Kurzzeitpflege zu stärken, die Zahl der Betreuungskräfte in Heimen von 25.000 auf bis zu 45.000 zu erhöhen und einen Vorsorgefonds zu finanzieren. Die beiden geplanten Beitragserhöhungen sollen insgesamt rund fünf Milliarden Euro in die Kassen der Pflegeversicherung spülen. Dies reicht allerdings offenbar nicht aus. Für die Überleitung auf das neue System veranschlagt Gröhe einmalig weitere 4,4 Milliarden Euro.
Das Geld soll aus den Rücklagen der Pflegeversicherung kommen. Gröhe hat für seine Reformbemühungen einiges Lob erhalten, sowohl beim Koalitionspartner SPD als auch bei Grünenpolitikern und Sozialverbänden. Politiker wie der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn warnen allerdings vor zu hohen Erwartungen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff werde "mit völlig überzogenen Wunschvorstellungen überfrachtet", sagte er. Es handle sich aber lediglich um ein zielgenaueres Begutachtungssystem, das "nicht automatisch zu mehr Personal und besseren Leistungen" führe.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz glaubt, dass die Pflege auch mit dieser Reform noch nicht zukunftssicher ist. "Gesundheitsminister Gröhe löst die Hypotheken auf, die ihm seine Vorgänger hinterlassen haben", sagte Vorstand Eugen Brysch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Doch zukunftssicher und generationengerecht wird das Pflegesystem dadurch nicht." Den Beitragszahlern von heute drohten weiterhin Leistungskürzungen im Alter. "Schließlich steigt immer mehr die Gefahr, dass Pflege arm macht."