Respekt statt Toleranz
Eine Woche lang soll es in den Sendern der ARD um das Thema "Toleranz" gehen. Die Werbung für die Themenwoche wie die Inhalte haben eine breite Debatte ausgelöst: Ist es ernsthaft heute noch eine Frage, ob Toleranz gewährt wird?
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck richtete sich in einem offenen Brief an die ARD-Verantwortlichen gemeinsam mit Raul Krauthausen, der im Rollstuhl sitzt und sich für Barrierefreiheit einsetzt, Sidonie Fernau, die sich in einem Verband binationaler Familien engagiert und Mekonnen Mesghema, der bei der Heinrich-Böll-Stiftung das Referat Migration und Diversity leitet. Dem Brief stellen sie ein Zitat von Goethe aus dessen "Maximen und Reflexionen" voran: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Und beleidigt sind die Unterzeichnenden: Sie sehen mit der von der ARD aufgeworfenen Fragestellung Teile der Gesellschaft "in ihrer Existenz in Frage gestellt". Was alarmistisch und empfindlich klingen könnte, wird plausibel angesichts der Pläne der ARD.
Zivilisatorischer Mindeststandard
Öl ins Feuer gießen nämlich Pressetexte wie der zu einer Talkshow im Hessischen Rundfunk unter dem Thema "Was müssen wir uns gefallen lassen?". Dort wurde die Definition von Toleranz mitgeliefert: "Toleranz ist etwas, was die Mehrheit der Minderheit gewährt" – eine Definition, die in Kombination mit der Werbekampagne befremdlich wirkt. Erst recht, wenn in der Sendung Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, ein Katholik und eine Protestantin, ohne Beteiligung derjenigen, über die gesprochen wird, Grenzen der Toleranz abstecken sollen.
Wollen wir, dass die Mehrheit huldvoll etwa Menschen mit Behinderungen, religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheiten Toleranz gewährt – und konsequent dann auch wieder entziehen kann? Das fällt weit hinter den Zivilisationsstand des Grundgesetzes wie des christlichen Menschenbildes zurück. Toleranz können alle Menschen aufgrund ihrer Würde als Grundrecht, als zivilisatorischen Mindeststandard einfordern – übrigens auch rechtlich: Das Grundgesetz kennt keine in herrschaftlicher Güte gewährten Rechte.
Mit dem Grundgesetz stellt sich die Frage, "was wir uns gefallen lassen müssen" so gar nicht – oder vielmehr: Das Grundgesetz beantwortet die Frage, wenn es die Würde des Menschen als zentralen Wert und Angelpunkt der Rechtsordnung feststellt und später das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Rahmen der gleichen Freiheitsausübung aller schützt. Das stellt auch der Bischofskonferenz-Vorsitzende Kardinal Reinhard Marx in seiner Stellungnahme klar: Der "unbedingte Respekt vor jeder menschlichen Person" steht nicht zur Debatte. Toleranz als Mindeststandard nötigt allen, gerade Mehrheiten ab, Minderheiten zu ertragen – und wer sich in die Tradition eines christlichen Anspruchs stellt, dem nötigt diese Tradition, auch darauf verweist Marx, noch mehr ab: Nächstenliebe.
Die Fragen werden tatsächlich gestellt
Es wäre aber zu einfach, die ARD-Themenwoche einfach nur als rückständig zu bezeichnen. So geschmacklos die Plakate sind, und so plausibel die Empörung über eine Schwerpunktsetzung ist, die ernsthaft zur Debatte stellt, ob Minderheiten zu ertragen sind – dass es überhaupt dazu kommen konnte, zeigt eine große – und möglicherweise sogar wachsende – Ungleichzeitigkeit in der Debatte: Der zivilisatorische Standard, der mit einem christlichen Menschenbild wie mit der Würdeformel des Grundgesetzes einhergeht, mag rechtlich und in der veröffentlichten Mehrheitsmeinung Konsens sein.
Die aufgeworfenen Fragen werden aber tatsächlich gestellt: "Belastung oder Bereicherung?" etwa angesichts einer zunehmend pluralen Gesellschaft, in der etwa Muslime zurecht nicht als Bittsteller auftreten, sondern ihre Grundrechte auch ausüben und etwa Moscheen bauen wollen – von den jüngsten Brandanschlägen auf Moscheen und den antisemitischen Ausschreitungen während des Gaza-Konflikts ganz zu schweigen. Hier gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft (nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft) Lernbedarf, dass ein Anspruch auf Toleranz besteht. Ein gleiches gilt für die Inklusion Behinderter: Noch immer ist es nicht selbstverständlich, dass Fragen der Teilhabe und Barrierefreiheit nicht aus Großmut auch berücksichtigt werden können, wo es passt, sondern dass die Rechte der Betroffenen es erfordern, dass ihre Ansprüche ebenso wie die der Mehrheitsgesellschaft berücksichtig werden müssen.
Menschen bleiben hinter katholischer Weite zurück
Auch innerhalb der Kirche gibt es diese Fälle: Zu Recht können wir stolz sein auf den bedingungslosen Respekt, für den Christen sich stark machen sollten, weil er aus der Gottesebenbildlichkeit folgt. Gerade das Zweite Vatikanische Konzil hat einige beeindruckende Zeugnisse dieses Respekt, der Toleranz weit überschreitet, abgegeben: Die Wertschätzung, mit der das Ökumenismusdekret "Unitatis redintegratio" über die von Rom getrennten Kirchen spricht, und der angesichts der gemeinsamen Taufe eigentlich keinen Raum für kleinliche Grabenkämpfe zwischen den Konfessionen lässt. "Nostra aetate" würdigt, ohne vom Wahrheitsanspruch Christi abzuweichen, das Wahre und Heilige in den nichtchristlichen Religionen.
Leider bleiben auch in der Kirche immer wieder Menschen hinter der katholischen Weite, die in diesen Schriften steckt, zurück: Fremdenfeindlichkeit und pauschale Ablehnung des Islams werden mit einer kulturkämpferischen Rhetorik der Verteidigung des "christlichen Abendlands" (oder auch nur in kleinerer Münze der "wirtschaftlichen Belastbarkeit Deutschlands") von Christen propagiert. Selbst die Mindeststandards, die der Katechismus zum Umgang mit Homosexuellen einfordert, "Achtung, Mitleid und Takt", bleiben oft unbeachtet, wenn die menschenrechtsfeindliche Politik eines Viktor Orbán, eines Wladimir Putins oder vieler afrikanischer Staaten unter das Banner christlicher Werte gestellt wird. Auch Christen stellen sich nicht immer an die Seite der Schwachen, Entrechteten, Hilflosen, Armen, sondern befleißigen sich selbst einer Freund-Feind-Unterscheidung und einer Das-Boot-ist-voll-Rhetorik.
Die ARD hat recht, wenn sie diese in der Gesellschaft ohne Frage bestehenden Probleme thematisiert: Es gibt wesentliche Teile in der Gesellschaft, für die sich wirklich die Frage stellt, ob sie fremd aussehende oder andersgläubige Menschen, Homosexuelle oder Behinderte und sogar spielende, schreiende Kinder wirklich ertragen müssen. Eine auf Grundwerten – ob es die des Grundgesetzes oder die des christlichen Menschenbildes sind – basierende Haltung erfordert es aber, von vornherein den bedingungslosen Respekt, der jedem einzelnen aus seiner Menschenwürde heraus geschuldet ist, nicht in Frage zu stellen. Alles andere ist Relativismus.