Schutz des Lebens bis zuletzt
Verfolgt man die zahlreichen Debatten zur Sterbehilfe, so ist man sich bei aller Kontroverse am Ende doch darüber einig, dass Palliativmedizin und Hospizarbeit ausgebaut werden müssen. Mitunter wirkt dieser Konsenspunkt jedoch wie ein Anhängsel, eine Art Ergänzung zur rechtlichen Regelung der "schwierigen Fälle". Jedoch: "Schwierige Fälle schaffen schlechtes Recht": Will man dieser Gefahr in einem so persönlichen, sensiblen Bereich wie dem Umgang mit Sterben und Tod entgegenwirken, muss man bei einem verbesserten Grundrechtsschutz schwerstkranker und sterbender Menschen ansetzen, und zwar in all den Dimensionen, in denen sie in besonderer Weise verwundbar oder verletzlich sind, vom physischen, psychischen, sozialen bis hin zum spirituellen Schmerz.
Genau diesen Weg hat die internationale Palliativ- und Hospizbewegung beschritten. Die Europäische und Internationale Vereinigung für Palliative Care, die Weltweite Palliative Care Allianz sowie Human Rights Watch haben im Jahre 2013 die "Prager Charta" verabschiedet. Sie versteht die Palliative Care bzw. den entsprechenden Zugang dazu als ein fundamentales Menschenrecht.
Parallel dazu gibt es in Deutschland eine Bürgerbewegung, die sich 2010 durch die "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland" eine Struktur gegeben hat. Diese Charta wurde von der Bundesärztekammer, vom Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verband sowie von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin initiiert. Zu Beginn des ersten Leitsatzes dieser Charta heißt es:
"Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Er muss darauf vertrauen können, dass er in seiner letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert wird und dass Entscheidungen unter Achtung seines Willens getroffen werden. Familiäre und professionelle Hilfe sowie die ehrenamtliche Tätigkeit unterstützen dieses Anliegen. Ein Sterben in Würde hängt wesentlich von den Rahmenbedingungen ab, unter denen Menschen miteinander leben. Einen entscheidenden Einfluss haben gesellschaftliche Wertvorstellungen und soziale Gegebenheiten, die sich auch in juristischen Regelungen widerspiegeln."
Würde ist unzerstörbar
Von "Sterben in Würde" ist allerorts die Rede, sowohl von Seiten der Befürworter als auch der Gegner des regelhaften bzw. geregelten assistierten Suizids. Richtig ist: Da wo menschliches Leben ist, ist Würde, egal, als wie "wertvoll" oder "selbstbestimmt" es von außen betrachtet wird. Leidende und Sterbende haben dieselbe Würde wie alle anderen Menschen; es ist auch falsch, Würde ausschließlich als "Selbstbestimmung" zu interpretieren, wie es heute vielfach geschieht.
„Menschliche Würde ist nichts Abstraktes, sondern eine Wahrheit.“
Wenn von "Sterben in Würde" die Rede ist, so verstehen wir unter "Würde" in ihrem Kerngehalt den absoluten inneren Wert menschlicher Existenz, der durch nichts in der Welt aufgerechnet werden kann. Unserer sittlich-rechtlichen Grundüberzeugung nach ist sie unantastbar. Sie steht für die Innerlichkeit des Menschen, - für seine Einmaligkeit, zu sein, zu leben und die Welt wahrzunehmen, - für seine Freiheit, die gegen jede Missachtung oder Erniedrigung des Menschen durch den Menschen verteidigt werden muss. Würde ist jedem Menschen kraft seines Menschseins eigen, so dass er sie nicht einmal selber veräußern kann, zu welchem Preis auch immer.
So verletzlich der Mensch aber in seiner leiblich-seelisch-geistigen Grundsituation ist, so verletzlich ist auch diese Würde: Sie ist störbar, jedoch nicht zerstörbar. Letzteres hängt damit zusammen, dass die Würde vorab aller Leistungen und aller sozialen Rangordnungen eine Mitgift ist, die jedem Menschen allein durch sein Menschsein gegeben ist. Sie ist unverlierbar in dem Sinne, dass keiner darüber verfügen kann, das heißt, keiner kann sie dem anderen einfachhin nehmen, sie kann nicht einmal für den Träger selbst zu einem Besitz werden, der es ihm ermöglichte, sie beliebig für bestimmte Zwecke einzusetzen. Menschliche Würde ist nichts Abstraktes, sondern eine Wahrheit: Sie lebt in und mit dem Menschen, der ihr Träger ist.
Menschen dürfen nicht über Leben und Tod entscheiden
Das Tötungsverbot ist somit ein Grundrecht, das unlösbar mit der dem einzelnen menschlichen Leben eigenen Wahrheit verknüpft ist. Im Kern besagt es, dass der Mensch kein letztes Verfügungsrecht über das Leben hat, das es ihm erlaubte, Entscheidungen über die Lebensperspektive eines Menschen zu treffen und daraus Konsequenzen über Leben oder Sterben abzuleiten. Ein Urteil über den "Wert" dieses je besonderen Lebens etwa in dem Sinne, dass es nicht wert sei, gelebt zu werden, missachtet fundamental das Lebensrecht eines Menschen; es ist daher durch das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde untersagt. Keiner ist berechtigt, ein solches Urteil über die "Un-Würdigkeit" des Lebens eines anderen zu fällen bzw. sich zu eigen zu machen und die tödlichen Konsequenzen mitzutragen.
„Individuation gibt es nicht nur in der Absonderung, sondern viel grundlegender und ursprünglicher in der Solidarität.“
Die Erschütterung und Betroffenheit, die alle Menschen unmittelbar verspüren, wenn ein Mensch durch Suizid aus dem Leben gegangen ist, ist ein Indiz dafür, dass die Würde des Menschen mehr ist als die Freiheit des Einzelnen, über sich selbst, seinen eigenen Körper und Geist der souveräne Herrscher zu sein, wie es der politische Liberalismus der Neuzeit versteht. Was viele liberal humanistischen Strömungen der Gegenwart zu wenig berücksichtigen: Individuation gibt es nicht nur in der Absonderung, sondern viel grundlegender und ursprünglicher in der Solidarität. Das bedeutet, dass ein Arzt, der um die Beihilfe zum Suizid gebeten wird, sich nicht einfach auf eine "ausführende Assistentenrolle" beschränken bzw. zurücknehmen lassen darf. "Eine Rechtfertigung, die den Tod als sinnvoll bzw. indiziert erklärt, überschreitet Erkenntnisgrenzen – dies gilt im Besonderen für die ärztliche Beihilfe zum Suizid. Die Auseinandersetzung mit dem Tod durch Suizid ist und bleibt – so niederdrückend es vielleicht klingen mag – ein bzw. das Thema des Lebens und nicht des Rechts, ihn herbeizuführen" (Christof Müller-Busch).
Option zur Lebensbeendigung kann zu Rechtfertigungsdruck führen
Dieser Grundsatz gilt auch für alle Versuche, den ärztlich assistierten Suizid in engen Grenzen gesetzlich zuzulassen. Der Rahmen lässt sich nicht halten, sondern erweitert sich mit jedem neuen Anlass. Die Gefahr, dass durch die Hypothese "nachvollziehbarer" Gründe zur Lebensbeendigung ein Druck gerade auf vulnerable Menschen ausgeübt werden könnte, lässt sich nicht von der Hand weisen.
Hier ist zu erinnern, was Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede aus dem Jahre 2001 "Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß" in Anlehnung an eine ärztliche Einschätzung deutlich gemacht hat: ",Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet.‘ Was die Selbstbestimmung des Menschen zu stärken scheint, kann ihn in Wahrheit erpressbar machen."
Wenn man sich auf dem Hintergrund dieser Überlegungen gegen die Zulassung eines wie auch immer geregelten bzw. regelhaften ärztlich assistierten Suizid ausspricht, wie es die Palliativmediziner in Deutschland einhellig getan haben, bedeutet das nicht, dass man damit Menschen zum Aushalten unerträglicher Schmerzen und unerträglichen Leidens zwingt. Die Palliativmedizin hat sich auf der Basis ihres Selbstverständnisses dazu verpflichtet, Menschen auch in Situationen nicht mehr beherrschbarer Schmerzen nicht alleine zu lassen, und bietet für diese Situationen die Möglichkeiten der palliativen Sedierung an. Die palliative Sedierung ist auf vielfältige Weise möglich und kann individuell abgestimmt werden; sie kann immer noch lebensorientiert arbeiten und die verbleibende Zeit lebenswerter machen, - der assistierte Suizid hingegen muss "todsicher" sein.
Im Strafrecht müssen falsche Zeichen vermieden werden
Nur wer die Würde des Menschen durch den Schutz des Lebens bis zuletzt achtet, kann der Integrität und Identität der Persönlichkeit gerecht werden. Hier müssen gerade im Strafrecht falsche Zeichen vermieden werden. Auf ein Verbot geschäftsmäßiger, vereinsmäßig organisierter Sterbehilfe scheint man sich den ersten Änderungsvorschlägen zur Strafrechtserweiterung einigen zu können, jedoch – so sieht es aus – um den Preis der mehr oder weniger geregelten oder kontrollierten Zulassung des ärztlich assietierten Suizids. Die Befürworter glauben, die Auswirkungen einer solchen Zulassung in Grenzen halten zu können. Was aber viel zu wenig beachtet wird, ist die Signalwirkung im Hinblick auf den "Charakter" einer modernen Gesellschaft.
Der amerikanische Soziologe David Riesman hat bereits vor vielen Jahren in seinem Buch "Die einsame Masse" die inneren Steuerungsmechanismen einer Gesellschaft beschrieben, deren Altersstruktur sich so entwickelt, wie wir es heute erleben. Die "lonely crowd" – so der Originaltitel, der eher im Sinne von "alleingelassener Menge" zu übersetzen wäre – besitzt einen "außen-geleiteten" sozialen Charakter, das heißt, sie ist konformistisch im Hinblick auf allgemeine Erwartungen. Die Meinungsumfragen zur Sterbehilfe scheinen diese Befindlichkeit zu bestätigen. Wer bei einem Gesetzgebungsverfahren zu Fragen der Sterbehilfe diese Zusammenhänge nicht sieht, ist blind. Wenn uns die Solidarität mit der Person eines jeden einzelnen Menschen etwas wert ist, brauchen wir einen Grundrechtsschutz durch den Aufbau einer Palliative Care, welche sich der Nöte schwerstkranker und sterbender Menschen umfassend anzunehmen vermag.
Von Gerhard Höver