Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst zur Asyl-Debatte

Schutz und Aufnahme statt Abwehr!

Veröffentlicht am 23.08.2015 um 14:01 Uhr – Von Stefan Keßler – Lesedauer: 
Flüchtlingskinder vor Zelten
Bild: © KNA
Flüchtlinge

Berlin ‐ Voraussichtlich 800.000 Asylsuchende in Deutschland im Jahr 2014: Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft. Im Gastbeitrag rechnet Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst mit Politikern ab, die jetzt ein Ende der Hilfsbereitschaft heraufbeschwören.

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Ein neues "Allzeithoch" bei der Zahl von Asylsuchenden hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor einigen Tagen prognostiziert: Mit insgesamt 800.000 Asylanträgen rechnet die Bundesregierung in diesem Jahr. Die Zahl ist ungefähr doppelt so groß wie die Prognose, die noch im Frühjahr 2015 abgegeben worden war.

Daran wird die Fragwürdigkeit solcher Zahlen und Prognosen deutlich. Und die Flutkatastrophenmetaphorik, die in solchen Meldungen vorherrscht, hat mit sachlicher Information relativ wenig zu tun. Ja, aller Voraussicht nach werden viele Menschen in Deutschland und anderen Ländern Europas Schutz suchen. Der Krieg in Syrien, in Somalia, Afghanistan und im Irak, die massiven Menschenrechtsverletzungen in Eritrea, die lebensbedrohliche Diskriminierung ethnischer Minderheiten wie der Roma in Serbien oder in Bosnien-Herzegovina: Alle diese unmittelbaren Gefahren für Leib und Leben werden die Menschen weiterhin zur Flucht zwingen.

Linktipp: "Wir können mehr Flüchtlinge verkraften"

Die Zahl der Menschen, die aus den Krisenherden der Welt nach Deutschland fliehen, steigt. Dabei wird auch die Fremdenfeindlichkeit immer stärker. Kardinal Reinhard Marx und Erzbischof Ludwig Schick haben dazu deutliche Worte gefunden.

Der Personalabbau rächt sich

Aber hat Deutschland wirklich keine andere Möglichkeit, als mit Zeltstädten, Containerdörfern und mit der Verstärkung der Abwehr auf diese Entwicklungen zu reagieren? Hier rächt sich, dass man in früheren Jahren Aufnahmekapazitäten und Personal abgebaut hat – beides muss man nun wieder schnell, schnell herbeischaffen. Die Propheten des Neoliberalismus hatten den Rückzug des Staates aus allen möglichen Feldern der Daseinsfürsorge durchgesetzt, und die Ideologie der "schwarzen Null" in den öffentlichen Haushalten ging vor allem zu Lasten der Sozialetats. Dies hat dazu geführt, dass die nun dringend nötige Infrastruktur fehlt und durch hastig herbeigeschaffte Provisorien ersetzt werden muss.

Die Helfer leisten Enormes

An dieser Stelle muss man aber auch die enorme Hilfsbereitschaft der vielen Menschen lobend erwähnen, die sich auf vielfältige Weise für Flüchtlinge einsetzen, sie willkommen heißen und ihnen beim Zurechtfinden in der neuen Umgebung beistehen. Kirchengemeinden und andere Gruppen, aber auch Hauptamtliche in der Sozialarbeit, der Flüchtlingsberatung und der technischen Hilfe leisten Enormes.

Video: © katholisch.de

Als Asylbewerber mit iPhone gratis im Vier-Sterne-Hotel leben? Nie arbeiten, da die Existenz in Deutschland ohnehin gesichert ist? Kostenlose Kleidung, Essen…? Die Wahrheit sieht anders aus. Vorurteile helfen nicht. Wir schon. Mach mit.

Ekelhaft wirken demgegenüber Äußerungen politisch Verantwortlicher, die vor einem "Umkippen" dieser Hilfsbereitschaft warnen, wenn noch mehr Flüchtlinge kämen. Man hat den Eindruck, hier wird das, wovor man warnt, eifrig herbei geredet. "Self-fulfilling prophecy" nennt man so etwas auf Neudeutsch …

Die Politik verdrängt die eigene Unfähigkeit

Die Engpässe und zahlreichen Schwierigkeiten bei Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen führen dieselben politisch Verantwortlichen – gemeinsam mit medialen Büchsenspannern – nicht etwa auf ihre eigene Unfähigkeit zum vorausschauenden Planen zurück. Stattdessen hetzen sie gegen bestimmte Flüchtlingsgruppen, vor allem gegen Menschen aus den Staaten des westlichen Balkan. Die bayerische Staatsregierung und Bundesinnenminister de Maizière propagieren, Flüchtlingen aus diesen Ländern einer Art "Schnell-Asylverfahren" zu unterwerfen und ihnen nur noch Sachleistungen zukommen zu lassen. Dabei unterstellen sie, dass Menschen etwa aus Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Kosovo keine legitimen Fluchtgründe hätten.

Themenseite: Auf der Flucht

Ob Armut, Terror oder Naturkatastrophen: Täglich verlassen Menschen ihr Heimatland, um woanders ein neues, ein besseres Leben zu beginnen. Die Flüchtlinge kommen auch nach Deutschland. Das bedeutet eine große Herausforderung für Politik, Gesellschaft und Kirche.

Wie sehr das intellektuelle Niveau der Argumentation schon gesunken ist, zeigt ein Zitat aus den "Eckpunkten sozialdemokratischer Flüchtlingspolitik", die Anfang August vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Bundesländer verabschiedet wurden. Dort heißt es unter Nummer 3, alle Länder des westlichen Balkans sollten zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt werden. Denn: "Sie streben in die EU. Die EU unterstützt diesen Prozess. Aus ihnen kann es schon deshalb keine Flüchtlinge in großer Zahl geben, weil sie ansonsten nicht Mitglied der EU werden dürften."

„Wenn mir ein Mann aus Serbien unter Tränen berichtet, dass seine Frau vergewaltigt und sein Haus angezündet wurde, nur weil sie Roma sind, dann empfinde ich das Gerede von den 'asylfremden Motiven' nur als zynisch.“

—  Zitat: Stefan Keßler, Jesuiten-Flüchtlingsdienst

Geht’s noch? Dass die EU-Kommission zum Beispiel Serbien, Bosnien-Herzegovina oder dem Kosovo vorhält, sie hätten enorme Defizite gerade im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Menschenrechte, scheint man im Willy-Brandt-Haus nicht wissen zu wollen. Viele Asylsuchende gehören zur Minderheit der Roma, die auf dem Balkan vielfach Opfer von rassistischer Gewalt und lebensgefährlicher Ausgrenzung sind. Nach europäischen Vorgaben sind dies Umstände, die zur Anerkennung als Flüchtling führen müssen. Die deutsche Asylpraxis schert sich aber nicht darum. Wenn mir ein Mann aus Serbien unter Tränen berichtet, dass seine Frau vergewaltigt und sein Haus angezündet wurde, nur weil sie Roma sind, dann empfinde ich das Gerede von den "asylfremden Motiven" nur als zynisch.

Ausgrenzung löst keine Probleme

Alle Asylsuchenden haben einen Anspruch auf eine unvoreingenommene Prüfung ihres Schutzbegehrens in fairen Verfahren. Ihre Fluchtgründe müssen endlich ernstgenommen werden. Die Probleme der Kommunen bei Aufnahme und Unterbringung von asylsuchenden Menschen lassen sich nicht durch die Ausgrenzung einzelner Personengruppen lösen. Bund und Länder müssen einspringen und künftig ihre Politik stärker auf die Aufnahme statt auf die Abwehr von Flüchtlingen ausrichten.

Zur Person

Stefan Keßler ist Politik- und Rechtsreferent beim Flüchtlingsdienst der Jesuiten in Berlin und seit 1985 in diesem Themenfeld tätig. Mit zwei Kollegen hat er im Mai dieses Jahres das Buch "Schiffbruch. Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik" (Knaur-Verlag) veröffentlicht.
Von Stefan Keßler