"Ich bin stolz, dass mein Vater ein Priester war"
Seine gesamte Kindheit und Jugend lang kannte der Ire Vincent Doyle den befreundeten Priester “JJ” als seinen Patenonkel. Seit 2011 weiß der heute 34-Jährige, dass der Geistliche sein biologischer Vater war. Vor drei Jahren gründete er schließlich die Selbsthilfeorganisation "Coping International". Seither ist der Theologe und Psychotherapeut auch in der Kirche ein gefragter Experte, wenn es um den Umgang mit Priesterkindern geht: Im Interview mit katholisch.de spricht Doyle über die Probleme der Priesterkinder, seine Erfahrungen mit der Kirche und die Geschichte seines Vaters.
Frage: Herr Doyle, seit 2014 betreiben Sie die Webseite "Coping International", auf der Priesterkinder und deren Mütter Hilfe finden. Wie viele Mütter und Kinder haben sich seitdem bei Ihnen gemeldet?
Doyle: Zu ungefähr 260 bis 270 Kindern von Priestern hatte ich direkten Kontakt. Besonders wichtig ist aber eine andere Zahl: Die Nutzer kamen aus 175 Ländern. Diese Menschen stehen für Personen auf der ganzen Welt, die Hilfe suchen und noch nicht wissen, dass entsprechende Angebote verfügbar sind. Diese Zahl zeigt also einen großen Bedarf. In den Zugriffsstatistiken ist übrigens auch Deutschland immer weit oben vertreten.
Frage: Mitte August hat der "Boston Globe" eine mehrteilige Geschichte über Priesterkinder veröffentlicht. In einem der Artikel ging es um Sie und Ihre Webseite. Welche Auswirkungen hatte das?
Doyle: Es gab tatsächlich eine deutliche Spitze in den Statistiken. Allerdings ist das meiner Einschätzung nach nicht repräsentativ für die Zahl der Kinder von Priestern. Schließlich dürften viele die Geschichte aus reinem Interesse gelesen haben und nicht, weil sie selbst betroffen wären. Für die Zeit vor dem Artikel können wir aber schon davon ausgehen, dass die Besucher eine genuine Verbindung zum Thema hatten. Davon zeugen jedenfalls die Suchanfragen. Etwa zwei Prozent der Besucher landeten über diesen Satz bei uns: "Ich bin schwanger und der Vater ist ein katholischer Priester." Das ist eine beunruhigende Statistik. Leiden diese Frauen unter Klerikalismus in der Kirche? Noch schlimmer, leiden die Kinder?
Frage: Haben sich seit der Veröffentlichung im "Globe" auch Betroffene direkt bei Ihnen gemeldet?
Doyle: Ja, seitdem haben sich ungefähr 35 Kinder von Priestern über E-Mail oder telefonisch bei uns gemeldet. Auch die Zeitung selbst hat zahlreiche Nachrichten erhalten und wird wohl bald einen weiteren Artikel dazu bringen.
Frage: Haben Sie auch positive Geschichten gehört?
Doyle: Durchaus! Meiner Meinung nach sollte die Kirche sehr für ihren Mut gelobt werden, auf diese Situation so ehrenhaft zu reagieren. Es braucht viel Demut und Courage die Probleme eines anderen Mannes zu lösen, für die man gar nichts kann. Im Jahr 2014 haben die Vereinten Nationen den Vatikan aufgefordert, Kinder von Priestern besser zu unterstützen. Ich erwarte, dass der Heilige Stuhl auch darauf positiv und würdevoll reagieren wird. Und auch Aussagen zahlreicher Bischofskonferenzen auf der ganzen Welt zeigen eine aufkeimende pastorale Sorge, lange bevor die Medien darauf aufmerksam wurden. Das ist christliches Handeln im Sinne von Jesu Wort: "Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan." (Mt 25,45) Aber natürlich darf das nicht dazu führen, sich selbst auf diesem Eigenlob auszuruhen. All das Positive ist vor allem ein gutes Fundament, das Gott uns zur Verfügung stellt und auf dem wir aufbauen können. Es gibt schließlich noch viel zu tun!
Frage: Was sind die häufigsten Probleme von Priesterkindern und deren Müttern?
Doyle: Charakteristisch für alle Fälle, mit denen ich bislang zu tun hatte, ist die "erzwungene Geheimhaltung". Das ist schwerwiegender als man zunächst annehmen könnte. Die irischen Bischöfe haben dies deshalb auch in ihren Richtlinien verurteilt. Verschwiegenheit wird dabei von der Gesellschaft wie vom Klerus oftmals als normales Verhalten angesehen. Ein Ordensoberer hat mir zu diesem Thema einmal gesagt, man "wäscht seine Schmutzwäsche schließlich nicht in der Öffentlichkeit". Solche Kinder und deren Mütter haben dann jedoch häufig mit Scham, Stigmatisierung, Tabuisierung und der Behandlung als "Einzelfall" zu kämpfen. Das verletzt die Menschenwürde und ist absolut konträr zu einem Ethos des Lebensschutzes. In der Folge kann das zu schweren psychischen Problemen führen und erklärt auch, warum man diese Menschen als Missbrauchsopfer verstehen kann. Aufgezwungene Geheimhaltung schützt Klerikalismus, nicht die Kirche.
Frage: Was unterscheidet die Situation eines Priesterkindes von der eines Kindes, das aus einer außerehelichen Affäre stammt?
Doyle: Diese Frage hat mir einmal ein Vertreter des Vatikan – der hier ungenannt bleiben soll – gestellt, und das ist meine Antwort: Wenn ein Arzt ein uneheliches Kind mit einer Krankenschwester zeugt, würde sich das Gesundheitsministerium dafür interessieren? Oder würde die Geburt dieses Kindes für einen Skandal im Gesundheitswesen sorgen? Wenn ein römisch-katholischer Priester Vater eines Kindes wird, steht dieses Kind für ein komplexes Problem. Das Mädchen oder der Junge personifiziert den Widerspruch zum priesterlichen Leben. Zugleich hat die Kirche eine Verpflichtung gegenüber diesem Menschen, da es ja auch ein Kind Gottes ist. Und damit ist das Kind auch eine "Crux": Steht die Kirche zu ihrem christliche Wesen und würdigt die Rechte des Kindes, oder versucht sie, diese Rechte mit ihren institutionellen und "klerikalen" Anforderungen aufzuwiegen? Im letzteren Fall tragen die Kinder das eigentliche Opfer, während die Väter nur scheinbar Opfer sind. Das ist Kindesmissbrauch.
Frage: Sie sind selbst Kind eines katholischen Priesters. Konnten Sie schon immer so selbstbewusst mit diesem Teil Ihres Lebens umgehen?
Doyle: Ich habe erst im Jahr 2011 herausgefunden, wer mein biologischer Vater ist. In gewisser Weise lautet die Antwort also: Nein, weil ich es vorher gar nicht wusste. Ich fühle mich zuallererst als Sohn meines geliebten Vaters. Kind eines Priesters zu sein ist nicht anders – zumindest sollte es nicht anders sein –, als Tochter oder Sohn eines Journalisten oder eines Arztes zu sein. Für die Probleme und Heimlichtuerei ist letztlich nur die Wahrnehmung der Menschen verantwortlich. Ich bin stolz darauf, dass mein Vater ein katholischer Priester war – er starb in gutem Ruf im Jahr 1995; er möge ruhen in Frieden.
Frage: Wie war Ihr Vater?
Doyle: Mein Vater hat immer für Gott und das Wohl der Menschen gearbeitet. Mit seinen Verfehlungen ging er dabei demütig um. Er hat mich genauso geliebt, wie seine Gemeinde und sein Priesteramt. Mit dieser Situation ist er sehr gut fertig geworden und es gab keine Widersprüche. Und ich konnte auch seine Situation verstehen. Ich wusste, dass "JJ" – unter diesem Namen kannte ich ihn – arbeiten musste und auch stille Zeit für sich brauchte.
Linktipp: Richtlinien für Priester mit Kindern erlassen
Wegen des Zölibats dürfte es sie eigentlich gar nicht geben: Kinder von Priestern. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die irischen Bischöfe haben sich nun dieses Tabuthemas angenommen.Frage: Wie haben Sie es geschafft, mit der Wahrheit über Ihren Vater umzugehen?
Doyle: Ich denke, da ich es nicht wusste aber eine Ahnung hatte, bin ich immer neugierig geblieben. Wie gesagt, ich habe es ja erst 2011 erfahren, aber ich habe immer vermutet, dass mein "Patenonkel" viel mehr als das war. Für unsere Beziehung war die Bezeichnung "Pate – Patenkind" einfach falsch. Es gab unausgesprochen eine ganz besondere Intimität zwischen uns. Dieses unbewusste Wissen hat später auch meine psychologischen Studien beeinflusst. Ich habe mich mit etwa mit widersprüchlichem Wissen und den schädlichen Folgen für die Person beschäftigt.
Frage: Ist es ein Zufall, dass Sie Psychotherapeut geworden sind?
Doyle: Ursprünglich wollte ich Priester werden. Ich war auch eine Zeit lang im Priesterseminar von Maynooth und habe dort 2011 mein Theologiestudium abgeschlossen. Anschließend habe ich noch einen Master in Pastoraltheologie und Seelsorge gemacht. Erst danach habe ich Psychotherapie studiert. Und das habe ich tatsächlich getan, weil ich der Sohn eines Priesters bin. Ich wollte meiner Erfahrung eine "Sprache" geben, meine inneren Erlebnisse in verständliche Worte bringen. Und das auf eine akademische, präzise, friedfertige, theologisch und psychologisch saubere Weise – auch im Gebet. Das griechische Wort "Psyche" bedeutet übersetzt Seele. Und sowohl Gott als auch mein Vater haben meine Seele angerührt. Mein Werdegang ist die passende Antwort darauf, finde ich.
Frage: In ihrem Engagement für Priesterkinder und deren Mütter haben Sie auf unterschiedlichen Ebenen mit der Kirche zusammengearbeitet. Wie haben Sie diese Kooperation erlebt?
Doyle: Die Kirche hat insgesamt recht gut reagiert. Unsere Idee in Irland war, eine Art Prototyp zu entwickeln. Die Frage war dabei immer: Wenn die Kirche sich für das Leben von der Empfängnis bis zum Tod einsetzt, muss sie dann nicht auch gegen die Stigmatisierung von Kindern aufgrund ihrer Abstammung eintreten? Die Antwort der irischen Bischöfe war historisch, auch in ihrer Wirkung. Erzbischof Diarmuid Martin war dabei besonders hilfreich; ich bin ihm sehr dankbar. Darüber hinaus treffe ich seit einiger Zeit regelmäßig hochrangige Vertreter des Vatikan, etwa Erzbischof Vincenzo Paglia, den Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben. Ich bin sogar schon mit Papst Franziskus selbst zusammengetroffen. Dabei waren alle Seiten sehr entgegenkommend. Dennoch dürfen wir nicht untätig sein. Wir sollten nicht über die Kirche schimpfen, sondern sie vielmehr ermutigen, verantwortungsvoll auf dieses Thema zu reagieren.
Frage: Das klingt, als ob die Verantwortlichen alles richtig machen würden.
Doyle: Bostons Kardinal Sean Patrick O'Malley hat in seiner Stellungnahme nach der "Spotlight"-Story gesagt, betroffene Priester hätte eine moralische Pflicht, ihren Dienst zu beenden und für den Lebensunterhalt des Kindes zu sorgen. Trotz seiner guten Absicht liegt der Kardinal da völlig daneben. Es ist eine Binsenweisheit, dass ein Mann sich seiner Verantwortung zu stellen hat, wenn er ein Kind zeugt. Das eigentliche Thema sind die geheimen und versteckten Kinder, die ängstlichen Mütter, die erzwungene Geheimhaltung. Es geht um Kinder, die isoliert und in Scham aufwachsen und psychisch leiden, weil klerikalistische Ideale über sie gestellt werden. Idealistische Statements helfen da nicht. Ich rufe den Heiligen Stuhl und die ganze Mutter Kirche auf, nicht den gleichen Fehler zu machen wie Seine Eminenz O'Malley. Natürlich meinte er es gut und ich danke ihm auch für seine Bemühung, aber vielleicht könnte er es nochmal versuchen? Das Problem ist die psychische Gesundheit der versteckten Kinder. Dank Seiner Eminenz weiß die Kirche immerhin, dass sie sich auf die Kinder, nicht die Priester fokussieren muss.
Frage: Welche Rolle haben Sie bei der Entwicklung der Leitlinien für die irische Kirche gespielt?
Doyle: Als Gründer und Leiter von "Coping" und als Psychotherapeut habe ich gesehen, dass es eine seelsorgliche Lücke gibt. Wohin wendet man sich als Sohn eines Priesters mit dieser Information? Und was tut man als Bischof oder Ordensoberer, wenn man einem Priesterkind oder dessen Mutter begegnet? Und was können Kinder und Mütter von den Verantwortlichen erwarten? Die Richtlinien stellen alle auf eine Stufe und stellen damit einen einheitlichen Zugang dar, der transparent und fair allen gegenüber ist. Ich denke, meine Hauptaufgabe war, genau diesen Ansatz herauszustellen und damit auch dafür zu sorgen, dass die Richtlinien überhaupt zustande kamen. Und schließlich hatte ich auch die Ehre, diese öffentlich zu machen.
Frage: Der Erzbischof von Dublin, Diarmuid Martin, ist ein öffentlicher Förderer Ihrer Arbeit. Reagieren alle Bischöfe so positiv auf Ihr Anliegen?
Doyle: Persönlich habe ich nie irgendetwas Negatives von einem amtierenden Bischof gehört. Ich bin immer mit größtem Respekt und würdig behandelt worden, sowohl in Rom wie auch in Irland. Dafür bin ich wirklich dankbar.
Frage: Abseits aller Fragen nach moralischem Handeln: Was muss ich in der Kirche Ihrer Meinung nach ändern?
Doyle: Ich würde mir einfach wünschen, dass die Kirche auf höchster Ebene anerkennt, dass Priester – selbst Kardinäle – Kinder haben. Das ist natürlich ein sensibles Thema. Und vielleicht geben wir es nicht gerne zu, aber wir müssen uns fragen, was wir schützen wollen: ein Ideal oder ein Kind? Daneben würde ich es gerne sehen, dass auch der Vatikan Richtlinien erlässt, wie es die irischen Bischöfe getan haben. Es muss klar sein, wie auf solche Situationen zu reagieren ist und dass das Kind immer an erster Stelle kommt, nicht der Priester, der Zölibat, oder persönliche Interessen. Und solche Regeln für Anerkennung und verantwortliches Handeln müssen vom Vatikan umgehend umgesetzt werden, damit wir nicht aufhören, Kirche Christi zu sein.
Frage: Welche Beziehung haben Sie persönlich zur Kirche?
Doyle: Ich liebe meine Kirche und will mit keiner Kirche leben oder meinen Glauben praktizieren, in der nicht alle willkommen sind – unabhängig von ihrer Abstammung. Und ich bin nicht bereit, meinen Glauben aufzugeben. Also habe ich wohl nur eine Möglichkeit.