Navid Kermani mit Friedenspreis ausgezeichnet

Gebet für Christen statt Applaus

Veröffentlicht am 18.10.2015 um 12:29 Uhr – Von Leticia Witte (KNA) – Lesedauer: 
Literatur

Frankfurt ‐ Der Schriftsteller Navid Kermani ist mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden. Er setzt sich für die Menschenwürde und ein friedliches Miteinander der Kulturen und Religionen ein. Nach der Auszeichnung geschieht etwas Überraschendes.

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Kermani bittet darum, für die in Syrien entführten Pater Jacques Mourad und Paolo Dall'Oglio sowie weitere verschleppte Christen zu beten. Und: "Beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks." Das sind die Worte des in Siegen geborenen Muslims Kermani, die Festgemeinde folgt ihm und erhebt sich.

Die Verleihung des mit 25.000 Euro dotierten Friedenspreises ist der Höhepunkt der am Sonntag zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse. Den Preis vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit 1950 als einen Beitrag zur Völkerverständigung.

Kermani prangert IS-Terror an und erinnert an Ordensmänner

In diesem Sinne ist auch Kermanis Dankesrede zu verstehen. In weiten Teilen widmet er sich Pater Jacques Mourad, der vom IS in Syrien entführt und erst vor rund einer Woche freigelassen worden war. Der ebenfalls verschleppte Jesuitenpater Paolo Dall'Oglio bleibt bislang verschwunden. Er hatte sich um den Dialog von Christen und Muslimen bemüht. Kermani prangert den IS und eine Gleichgültigkeit des Westens an, spricht aber auch von einem Niedergang des Islam.

Bild: ©dpa

Abubakr Moschee in Frankfurt. "Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie," sagt Kermani.

Die meisten Muslime lehnten Gewalt ab, betont der 47-Jährige. Es sei ein Trugbild, dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führe. "Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die islamische Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften."

Der Schriftsteller spricht von einem "religiösen Faschismus". Die Gräueltaten seien "nicht der Beginn, sondern der vorläufige Endpunkt eines langen Niedergangs, eines Niedergangs auch und gerade des religiösen Denkens". Die alten Schriften sagten etwas darüber aus, "was einmal denkmöglich oder sogar selbstverständlich war innerhalb des Islams". In der heutigen religiösen Kultur finde sich nichts, "das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß", so der Islamwissenschaftler.

Kermani: Islam war mal aufklärerischer

Die Vergangenheit dieser Religion sei "so viel aufklärerischer" gewesen, sagt Kermani. "Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie." Kermanis düsteres Fazit: "Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion."

Der Friedenspreisträger appelliert daran, die europäische Idee nicht aus den Augen zu verlieren. "Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist."

Für ihn sei es beglückend, wenn sich viele Menschen hier für Schutzsuchende engagierten. Aber: "Wir führen keine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen abspielt."

Gegen Ende seiner Rede, noch bevor sich die Festgemeinde zum Gebet erhebt, fragt er: "Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum Krieg auf." Klar sei aber: Wir müssten uns zu diesem Krieg verhalten, "womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich". Nach dem Gebet gibt es doch noch Applaus.

18.10.2015, 15:20 Uhr: kurze Meldung durch aktuellen ausführlichen Bericht ersetzt

Zur Person

Islamische und christliche Mystik, Ästhetik, das Verhältnis von Orient und Okzident - Navid Kermani gilt als äußerst vielseitiger Intellektueller. Der 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geborene Schriftsteller und Orientalist arbeitet auch als Journalist und hat Reportagen aus Krisengebieten publiziert. Der 47-Jährige veröffentlicht Romane, Erzählungen, wissenschaftliche Arbeiten und Reportagen. Zuletzt erschien von ihm "Ungläubiges Staunen. Über das Christentum", eine persönliche Reflexion über christliche Kunst und Religion. Für sein Werk wurde Kermani, der muslimischen Glaubens ist, mehrfach ausgezeichnet, etwa mit der Buber-Rosenzweig- Medaille (2011) für christlich-jüdische Verständigung und dem Joseph-Breitbach-Preis (2014).
Von Leticia Witte (KNA)