Tod und Gewalt beim Pilgern nach Santiago de Compostela

Vermisst auf dem Jakobsweg

Veröffentlicht am 21.05.2015 um 14:20 Uhr – Von Andreas Drouve (KNA) – Lesedauer: 
Wallfahrt

Santiago de Compostela  ‐ Es ist der Horror eines jeden Pilgers: Seit Anfang April wird die nordamerikanische Pilgerin Denise Thiem vermisst. Sie wollte den Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela gehen. Ihr Fall ist jedoch nicht der einzige in der Geschichte des berühmten Pilgerwegs.

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Das auf über 1.500 Metern gelegene Kreuz markiert das Dach des Jakobsweges; höher geht es auf dem Hauptweg zwischen den Pyrenäen und Santiago de Compostela nicht hinauf. Denise Thiem kam nachweislich nie oben an, hatte aber - wie alle Pilger - vor, den Weg dorthin einzuschlagen. Dies war auch ihrer letzten Mail an Freunde in den USA deutlich zu entnehmen.

Bevor man die Aufstiegspassagen in die Bergwelt erreicht, führt der Jakobsweg durch einsames Busch- und Heideland und das Dorf Santa Catalina de Somoza. Ebendort entging am vergangenen Wochenende eine ortsansässige Spaziergängerin nur knapp einer Entführung. Die Frau bemerkte laut Polizeiangaben nahe einem Rastplatz für Jakobspilger ein kleines, dunkles Auto. Im Inneren befanden sich demnach zwei Männer, die sie heranzuwinken versuchten, als würden sie etwas fragen wollen.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela.
Bild: ©musuraca/Fotolia.com

Sie ist das Ziel der Pilger: die Kathedrale von Santiago de Compostela.

Der 50-Jährigen kam die Situation nicht geheuer vor. Als sie nach eigenen Angaben bemerkte, dass einer der Männer halbmaskiert war und der andere das Auto verließ und auf sie zukam, rannte sie davon. Der Unbekannte habe sie eingeholt und am Arm gepackt, offenbar um sie zum Auto zu ziehen - doch es gelang ihr, sich loszureißen und zu flüchten. Dank ihrer Ortskenntnis fand sie ein Versteck in einem Gebüsch. Ihrer Aussage zufolge sprachen die Unbekannten nicht Spanisch miteinander; sie vermutete eine osteuropäische Sprache.

Laut den laufenden Ermittlungen haben die beiden Fälle des versuchten Kidnappings und der verschwundenen Pilgerin nicht "a priori" etwas miteinander zu tun. Allerdings könne eine Verbindung nicht ausgeschlossen werden. Wie die Regionalzeitungen "Diario de Leon" und "La Voz de Galicia" berichten, haben bereits mehrere Pilgerinnen, die in dieser Gegend unterwegs waren, ausgesagt, "bedrängt" und "belästigt" worden zu sein. Offizielle Anzeigen liegen nicht vor, doch Anwohner des 60-Seelen-Dorfes Santa Catalina de Somoza bestätigen solche Vorkommnisse; es entstehe ein Klima der Unsicherheit.

Bislang keine Spur von Denise

Was mit Denise Thiem passiert ist, stellt sie Polizei bislang vor ein Rätsel. Trotz intensiver Suchmaßnahmen mit Hilfe von Polizeieinheiten, Spürhunden, Helikoptern und Freiwilligenteams gebe es bislang nicht die geringste Spur. Das weist Parallelen zum Fall Manfred Reyle auf. Der damals 73-jährige Pfarrer aus Tübingen verschwand im August 2011 auf dem Weg hinauf zum Grenzpass von Somport, dem zweitwichtigsten Pyrenäen-Übergang der Jakobspilger. Auch damals fand eine ausgedehnte Suche statt, die völlig ergebnislos verlief. Im Berggebiet um das Cruz de Ferro hat die Polizei nunmehr die Präsenz verstärkt.

Linktipp: Karriere oder Jakobsweg?

Im Oktober 2005 fasste Sabine Dankbar den Entschluss, ihr Leben grundlegend zu verändern. Sie kündigte ihren Topjob in der Modeindustrie als Geschäftsleiterin im Unternehmen der Familie. Den nötigen Abstand vom bisherigen Alltag bekommt sie im Juni 2006 durch ihre Pilgerwanderung von St. Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela. Heute sieht ihr Leben ganz anders aus, wie sie im Interview mit katholisch.de berichtet.

Ob Reyle und Thiem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen, ist bislang nicht bewiesen, aber wahrscheinlich. Bei der amerikanischen Pilgerin mit ihrem orientalischen Aussehen könnte ein sexueller Übergriff stattgefunden haben, so wird vermutet. Die Hoffnung, sie lebend zu finden, sind - auch trotz der Facebook-Seite "Help us find Denise" - wohl eher gering.

Besteht für Alleinwanderer auf dem Jakobsweg nun eine verstärkte Gefahr? Immerhin verläuft die Strecke vielerorts durch entlegene, dünn besiedelte Gegenden. Francisco Esteban Palomo, ein spanischer Camino-Experte, der seit 25 Jahren Pilgergruppen begleitet und Mitglied des Gästeführerverbands von Santiago ist, sind keine anderen Fälle bekannt. Dennoch findet der 62-Jährige die jüngsten Ereignisse "äußerst beunruhigend". Er appelliert an alle Pilger, stets ein Handy dabei zu haben und "niemals allein" zu gehen.

Von Andreas Drouve (KNA)