Wachet auf ruft uns die Stimme
Damit ist der Text aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert typisch für die oft rätselhaften Lieder im Advent: Die entsprungene Rose, das geladene Schiff, und immer wieder die himmlische Stadt Jerusalem. In diesen Rätselbildern verstecken sich die Verse, die "Wachet auf" für mich zum liebsten und tiefsten Adventslied machen: "Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig,/Von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig" – das ist das ganze Christentum, das Wunder der Menschwerdung Gottes in Jesus, auf knappstem Raum. Gott entäußert sich und wird den Menschen gleich – und sein Reich ist nicht von dieser Welt. Die Größe und Erhabenheit des Reiches Gottes und Christi erweist sich nicht in Prunk und Stärke, wie sie zu weltlicher Herrschaft gehören.
Die Stärke Christi, die die Stärke der Christen sein soll, liegt in der Gnade – nicht in Gewalt, nicht auftrumpfend und kulturkämpferisch. Stark ist das Christentum, stark sind die Christen nur im Dienst für andere, freiwillig, unverdient und selbstlos. Stark ist das Christentum auch nur dann in einer Gesellschaft, wenn Christen mit ihrem Tun aus dem Glauben heraus Sauerteig sind – und nicht, wenn Stärke gleichgesetzt wird mit einer Privilegierung durch Gesetze, mit verordneter christlicher Symbolik und formelhaften Bekenntnissen zu Abendland, Gott und kulturellem Erbe.
Wenn die Kirche und die Christen so "von Gnaden stark" sind, wie Christus es war – dann ist auch ihre Wahrheit mächtig und glaubwürdig. An dieses bescheidene und gerade deshalb mächtige Christentum denke ich jedes Mal, wenn ich "Wachet auf, ruft uns die Stimme" in der Adventszeit singe.
Von Felix Neumann