Wider die Tyrannei der Beschleunigung
Ständige Erreichbarkeit am Handy, Rufbereitschaft für immer mehr Arbeitnehmer und die Ausweitung von Samstags- und Sonntagsarbeit: Für Hengsbach sind das die typischen Merkmale einer "Tyrannei der Beschleunigung". Sie greife rapide um sich und erfasse alle Lebensbereiche. Nichts bleibt davon verschont, zählte der Ordensmann auf. "Beethoven hat die 'Eroica' als ein 60-minütiges Werk komponiert, heute wird sie schon um 20 Minuten schneller gespielt."
Durchschnittlich 42 Arbeitsstunden pro Woche
Doch was hat bei den Menschen im Westen zur allgemeinen Atemlosigkeit geführt? Hengsbachs Hypothese: Die informationsgestützten Finanzmärkte hätten einen Beschleunigungsdruck ausgelöst, der nach und nach börsennotierte Unternehmen, die Entscheidungsprozesse der Staaten, die Arbeitsverhältnisse und die Privatsphäre erfasst habe.
Auf den Aktienmärkten vertretene Unternehmen seien nur auf kurzfristige Erfolgszahlen fixiert, lautete Hengsbachs Analyse. "Und von den Regierenden wurden bis vor kurzem die Finanzmärkte als fünfte Gewalt einer 'marktkonformen' Demokratie akzeptiert". Weil die Politik auf die Stimmen der Finanzmarktakteure gehört habe, hätten sich zudem die Entscheidungsprozesse beschleunigt. Das führte etwa zu entregelten Arbeitsverhältnissen, meinte Hengsbach. "Befristete und Leiharbeitsverträge, prekäre und niedrig entlohnte Beschäftigungen haben zugenommen. Die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeiterwerbstätigen liegt heute bei 42 Wochenstunden."
Wie aber diesem scheinbaren Teufelskreis entrinnen? "Es gibt keine strukturellen Änderungen in Gesellschaften, solange Menschen nicht aufstehen und sagen: Wir machen nicht mehr mit", sagte Hengsbach. Aber: Nur die "innere Bekehrung", die persönliche Weigerung, sich Eigenzeit zurück zu erobern, reiche nicht, meinte der Jesuit. Reines Nichtstun, Muße und zweckfreie Meditation seien zwar erste Schritte hin zu mehr Zeitautonomie. Hinzu müsse aber die "Rückkehr zu bewährten Verfahren" kommen. Es bedürfe etwa einer strengen Regulierung der Finanzmärkte und der Mitbestimmung im Unternehmen.
Jahr des Aufatmens
Ebenso brauche es wieder flächendeckende Tarifverträge und eine Entschleunigung möglich machende radikale Verkürzung der Vollerwerbsarbeitszeit, forderte der Wissenschaftler. Dazu müsste es erstens eine Entlastung der Frauen von unbezahlter Arbeit in der Privatsphäre geben. Weiter plädierte er für eine "Halbtagsgesellschaft". Dafür brauche es faire Umverteilung der "gesellschaftlich nützlichen Arbeit" auf die in unfreiwilliger Teilzeit, befristet oder prekär Beschäftigten sowie der Arbeitslosen. "Das führt zu einer 30-Wochenstundenarbeitszeit für jeden. Ohne dass der Lebensstandard sinken müsste", rechnete Hengsbach vor. Dieses Modell würde den Zeitdruck von den Menschen nehmen.