Wo sind die Toten? Über die Auferweckung des Leibes
Liturgietheologische Problemanzeige
Der reformierte Theologe Jürgen Moltmann hat schon vor mehr als 20 Jahren im Buch "Das Kommen Gottes – Christliche Eschatologie" ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass die existentiell zentrale Frage der Hinterbliebenen am Grab lautet: "Wo sind die Toten?", weil in der Umschreibung durch die Ortsmetaphorik eigentlich die Identitätsfrage gestellt wird. Sind die Toten tot – im Grab? Oder leben sie – bei Gott? Dass diese Frage keineswegs trivial ist, zeigt ein Blick in die deutschsprachige Begräbnisliturgie. Das Rituale von 1973, das bis zum Jahr 2009 in Gebrauch war, spricht davon, dass der Leib des bzw. der Verstorbenen ins Grab gelegt wird (z. B. Gebet am Grab). Die Genitivverbindung macht deutlich, dass es hier nicht um eine Identitätsaussage geht. Gemeint ist vielmehr der tote Körper, der Leichnam, der bestattet wird. Die Hoffnung des Glaubens aber richtet sich darauf, dass die mit Namen angeredete Person – "dein Diener, deine Dienerin N." – "Wohnung und Heimat" bei Gott hat (Verabschiedungsgebet), dass sie jetzt "bei Christus ist" und "nun" sein "Angesicht schauen" darf (Gebet am Grab).
Anders dagegen die Neufassung von 2009 und das Manuale von 2012, das bis auf Weiteres die gescheiterte und von den Bischöfen wieder zurückgezogene Version von 2009 ergänzen soll. Hier oszillieren die Identitätsaussagen. Selbstverständlich wird auch hier die Hoffnung formuliert, der bzw. die Verstorbene möge bei Gott – im Himmel, bei Christus, im Paradies – geborgen sein. Aber auch der ins Grab gesenkte Leichnam wird personal adressiert: "Gewähre gnädig, dass in diesem Grab dein Diener (deine Dienerin) in Frieden ruhe" (Segnung des Grabes, 2009) bzw.: "Segne dieses Grab und lass deinen Diener (deine Dienerin) in Frieden ruhen, bis du ihn (sie) auferwecken" wirst (Segnung des Grabes, 2012).
Der Streit um die Auferweckung des Leibes
In systematisch-theologischer Hinsicht hängt diese pastoral so missliche Identitätsunklarheit am Begriff der leiblichen Auferweckung bzw. Auferstehung – die Begriffe werden synonym gebraucht. Dass Auferstehung der Toten nur leiblich gedacht werden kann, darüber sind sich alle einig. Menschliche Personen sind stets nur leiblich realisiert, der Begriff einer leiblosen menschlichen Person wäre ein Unbegriff. Aber erzwingt der Begriff einer leiblichen Auferweckung auch einen Miteinbezug der Grabesmaterie?
„Ich bin mein Leib, aber ich habe einen Körper.“
Die Feier des Begräbnisses in der Fassung von 1973 ist dem Konzept einer Auferstehung im Tod zumindest nicht abträglich. In diesem Modell wird zwischen dem Leib als Garant der Ersten-Person-Perspektive einer menschlichen Person, als Ausdruck ihres In-der-Welt- und In-Beziehung-Seins einerseits und dem nur drittpersonal thematisierten menschlichen Körper, der im Moment des Todes zum Leichnam wird, andererseits unterschieden. Ich bin mein Leib, aber ich habe einen Körper. Leib meint in diesem Sinn das Gesamt der welthaften und kommunikativen Bezüge einer menschlichen Person, Körper dagegen die biochemische und massehaltige Realisierungsweise dieser Welt- und Selbsthaftigkeit unter den hier und jetzt gegebenen raumzeitlichen Bedingungen. Identitätsrelevant und daher Gegenstand der Auferweckung im Moment des Todes ist die leibseelische, personale Ganzheit des Menschen, nicht aber die körperliche Materialität, die im Grab verbleibt.
Hinter den liturgischen Varianten von 2009 und 2012 steht dagegen die klassische Modellvorstellung vom Tod als der Trennung von Leib und Seele. Während der Leib ins Grab sinkt, wird die vom Leib getrennte Seele – daher der Fachausdruck anima separata – in einem Zwischenzustand, landläufig Fegfeuer genannt, von lässlichen Sündenstrafen gereinigt und sozusagen ewigkeitsfähig gemacht. Erst am Ende der Zeit, bei der Wiederkunft Christi, werden die Gräber geöffnet und die auferweckten Leiber wieder mit ihren Seelen vereinigt. Man spricht daher vom Modell einer endzeitlichen Totenerweckung.
Vertreter dieses Modells werfen dem Konzept einer Auferstehung im Tod gerne vor, dass die Unterscheidung zwischen Leib und Körper eine nur im Deutschen mögliche sprachliche Spitzfindigkeit sei. Andererseits haben sie selbst mit mannigfachen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wenn unser irdischer Körper sich schon hier und jetzt, bedingt durch unablässige Stoffwechselreaktionen, etwa alle sieben Jahre materiell praktisch komplett austauscht, welche Körpermaterie genau soll denn dann identitäts- und also auch auferstehungsrelevant sein? Und wie wäre überhaupt eine solche körperliche Restitution aus dem Grabe zu denken, wenn doch im Jenseits nicht Raum noch Zeit, wie wir sie kennen, mehr sein wird?
Vor allem aber: Wie ist der Status der vom Leib getrennten Seele im Zwischenzustand zu bestimmen? Ist sie das vollpersonale Ich des Menschen, ein geistbegabtes, mit Verstand und Wille ausgestattetes, subjekthaftes Aktzentrum (so die platonische Seelenintuition) – wozu dann noch eine nachgereichte Wiedervereinigung mit dem Leib? Ist die Seele aber die Form, das heißt das Lebens- und Strukturprinzip eines lebendigen Körpers (so die aristotelische Intuition), dann bleibt auch die anima separata im Zwischenzustand wesentlich auf den Leib hin geordnet. Dann aber ist sie, wie der heilige Thomas in aller Deutlichkeit sagt, ohne diesen Leib quasi nihil, quasi ein Nichts, vergleichbar allerhöchstens einer abgehackten Hand. Die Seele des Petrus ist nicht Petrus, schreibt Thomas ausdrücklich. Wie aber kann ein solch zutiefst defizitärer Grenzbegriff empfindungs- und reinigungsfähig sein und ggf. schon vor der endzeitlichen Totenerweckung der glückseligmachenden Gottesschau teilhaftig werden?
Die Seele als Form des Leibes
Thomas von Aquin wollte beides miteinander verbinden: den platonischen und den aristotelischen Seelenbegriff, weil nur so das Anima-separata-Konzept einer endzeitlichen Totenerweckung begrifflich einigermaßen modellierbar ist. Man wird jedoch nüchtern feststellen müssen, dass die Denkschwierigkeiten, die sich dabei stellen, immens und vielschichtig und bis heute in keiner Weise auch nur annähernd befriedigend bearbeitet sind.
Freilich kennt die theologische Tradition nicht nur den aristotelischen Spitzensatz, dass die Seele die Form des Leibes ist: anima forma corporis. Sondern sie versteht diese Seele – eben weil sie das Lebensprinzip, das eigentliche Strukturmoment, gewissermaßen der innere Bauplan eines lebendigen Organismus ist – zugleich als seinsverleihend: forma dat esse. Die Form, also die Seele, gibt das Sein. Sie ist Garantin und zugleich Prägekraft der leibhaftigen Existenz. Mit Blick auf die Auferweckungshoffnung bedeutet das: Wie schon hier und jetzt, so wird die Seele auch in der Auferstehung dort und dann "ihren" Leib verwirklichen.
Der Autor
Matthias Remenyi ist Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg und Ständiger Diakon.Das ist in mehrfacher Hinsicht innovativ. Erstens wird damit der Gedanke möglich, dass leibliche Auferstehungsidentität ganz unabhängig von der im Grab verwesenden Körpermaterialität besteht. Gott könnte, so ein schon im 14. Jahrhundert viel diskutiertes Gedankenexperiment, den Auferstehungsleib des Petrus aus dem Staub des Leibes Pauli bilden, und es wäre doch der numerisch identische Petrus, der da leiblich aus dem Tod erweckt würde, weil allein die Selbigkeit der Form auch die Selbigkeit des materiellen Substrats gewährleistet. Damit ist zweitens klar: Identitätsträger ist nicht die Materie, sondern einzig das diese Materie formende und strukturierende Prinzip, das man traditionell Seele nennt. Drittens wird auf diese Weise die mit Blick auf die Auferstehungsleiblichkeit so zentrale Spannung zwischen Identität und Transformation optimal ausbalanciert. Auferstehung des Leibes meint völlige Transformation des Gewesenen – dies aber bei sich auch über den Tod hinaus durchhaltender personal-ganzmenschlicher Identität.
Auferweckung des Leibes als Gestaltwandel der Person
Nun ist offensichtlich, dass uns Heutigen die philosophischen Prämissen und die weltbildhaften Hintergründe dieser Denkansätze nicht mehr ohne Weiteres einsichtig sind. Daher stellt sich die Frage: Wie kann unter heutigen Bedingungen das innovative Potential dieser Tradition gehoben und in uns zugängliche Sprachformen gegossen werden? Ich schlage vor, zu diesem Zweck den ästhetisch konnotierten Gestaltbegriff zu Hilfe zu nehmen und die mit dem Begriff der leiblichen Auferweckung aus dem Tod ins Bild gebrachte Spannung zwischen Identität und Transformation des gelebten Lebens eines Menschen als Gestaltwandel der Person zu deuten.
In diesem Sinne wäre leibliche Auferstehung zu verstehen als die von Gott wunderbar herbeigeführte, radikale Verwandlung der geschichtlich so und nicht anders gewordenen, leibseelisch realisierten, einen und einzigartigen Lebensgestalt einer menschlichen Person im Augenblick des Todes in die Gestalt eschatologischer Herrlichkeit. Biographische Brüche, Unfertiges und Schuldhaftes an unserer irdischen Lebensgestalt werden – so steht im Glauben zu hoffen – als geschichtliche Gewordenheiten auch bei Gott nicht einfach verschwinden, wohl aber geheilt, verwandelt und ins Ganze der Christusbeziehung hinein vollendet werden.
Transformation der personalen und leibseelischen Gestalt im Moment des Todes meint Gestaltwandel, nicht Gestaltwechsel. Das ist wichtig, weil das Identitätsmoment daran hängt. Das Subjekt wird anders, aber nicht ein anderer. Es ist prä- wie postmortal dieselbe ganzmenschliche Gestalt, die hier und jetzt funktional ausgerichtet an den Seins- und Lebensbedingungen unserer irdischen Existenzweise ist, die aber am Nullpunkt des Todes durch ein wunderbares Handeln Gottes ganz und gar transformiert werden wird, um dort und dann jenes Leben in Fülle bei – in, durch, vor und mit – Gott führen zu können, das ihr ausersehen ist.