Für eine Kultur der Zusammenarbeit
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Seine erste Reise aus dem Vatikan führte Papst Franziskus auf die Insel Lampedusa. Das war im Juli 2013. Dort wurden damals schon jahrelang anstrandende Menschen notdürftig untergebracht, die von Schleppern organisierte, lebensbedrohliche Fahrten über das Mittelmeer mit Glück überlebt hatten; Flüchtlinge, über deren Schicksal die europäische Öffentlichkeit gelernt hatte hinwegzusehen und zu schweigen. Papst Franziskus durchbrach das Kartell des Schweigens und richtete das Scheinwerferlicht auf das Schicksal derer, die unmittelbar vor den Toren unseres Kontinents verdursten, verhungern, in blutigen Bürgerkriegen verwundet und vertrieben werden. "Globalisierung der Gleichgültigkeit" nannte der Papst das, was sich parallel zur Globalisierung der Märkte etabliert hatte und geißelte die Kultur des Wegsehens, die in Europa längst eingeübt war.
Seither hat Franziskus diese Mahnung an vielen Stellen wiederholt - im Europäischen Parlament, bei der Fußwaschung in Castelnuovo di Porto am Gründonnerstag diesen Jahres, beim Besuch der Insel Lesbos im April 2016. Er hat die Kultur des Wegsehens überwunden und nichts ist mehr wie zuvor. Die politischen Antworten von gestern, die die Fragen nach dem Schicksal der Flüchtlinge an den Rand der Tagesordnungen ebenso wie an die Ränder Europas, an den Rand der Arbeitsmärkte und an die Ränder der Städte verorteten, haben ausgedient. Die neuen Antworten zu finden, ist ebenso herausfordernd wie die Aufgabe, für diese neuen Antworten politisch Unterstützung zu finden. Angela Merkel weiß davon zu berichten.
Auf Erfahrungsvorsprung im Umgang mit Flüchtlingen zurückgreifen
Auf die Frage, was Flüchtlinge brauchen, damit sie im Land ihrer Aufnahme Beheimatung finden, gibt es beim UN-Flüchtlingskommissar Antworten, auf die wir in Deutschland und Europa zurückgreifen können, wenn wir Kompetenz und mehrjährigen Erfahrungsvorsprung nutzen wollen: Entscheidend sind gelingende Integration in den Arbeitsmarkt, Wohnen außerhalb von Ghettos und Camps, Zugang zum nationalen Gesundheitswesen und ein Bankkonto.
Die größte Aufmerksamkeit unter diesen Handlungsfeldern findet in Deutschland vorläufig die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt, und das verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass Frank-Jürgen Weise bereit war, die Doppelaufgabe zu schultern, Chef der Bundesagentur für Arbeit und Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu sein. Er war und ist Garant dafür, dass der asyl- und arbeitsmarktpolitische Paradigmenwechsel, den der Gesetzgeber und der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit 2014 vollzogen haben, unter dem Druck dramatisch steigender Flüchtlingszahlen nicht rückgängig gemacht wurde. Nach Jahrzehnten, in denen in Deutschland Asylsuchende vom Arbeitsmarkt systematisch fern gehalten wurden, heißt die Leitmaxime nun: Integration ins Erwerbsleben so früh, so qualifikationsgerecht und so perspektivreich wie möglich.
Damit das gelingt, müssen Förderung des Spracherwerbs und Unterstützung bei der Aufnahme einer existenzsichernden Beschäftigung früh verknüpft werden. Oder - wie es der Abschlussbericht der Laschet-Kommission zur Vorbereitung des CDU-Parteitags 2015 formulierte: "Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Bedingungen guten Miteinanders von Menschen unterschiedlicher Herkunft verbessern sich wesentlich mit der Möglichkeit, sich in der gleichen Sprache souverän verständigen zu können. Gute deutsche Sprachkenntnisse erleichtern auch den schulischen und beruflichen Erfolg, sie wirken Exklusion, Diskriminierung und Gefahren sozialer Spannungen entgegen. Wir wollen zielgruppenspezifische Sprachförderangebote" - zum Beispiel auch für Frauen.
Frauen und Mädchen auf der Flucht
Das Wissen um die Notwendigkeit, asylsuchende Frauen und Mädchen besonders zu unterstützen, drohte angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge 2015 verloren zu gehen. Bilder von jungen Männern, die testosterongesteuert auf dumme Ideen kommen, wenn man ihnen keine vernünftige Arbeit gibt sowie Vorstellungen vom Familienvater, der einen Job sucht, von dem er sich und seine Familie in Deutschland ernähren kann, dominierten die Diskussion. Tatsächlich erreichen aber auch asylsuchende Frauen und Mädchen Deutschland mit der Erwartung, in der gleichberechtigten Kultur Europas andere und bessere Chancen auf eigene Existenzsicherung zu haben als in ihren Heimatländern. Es sind Frauen und Mädchen auf der Flucht, die eine deutlich höhere Erwerbsneigung haben als es die Rahmenbedingungen ihrer Herkunftsländer ihren daheimgebliebenen Schwestern und Müttern erlauben.
Das, was Erzbischof Stefan Heße in seinem Beitrag für katholisch.de über die sinnstiftende und inklusive Funktion der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen schreibt, gilt in vieler Hinsicht besonders für flüchtende Frauen: "Neben dem kollegialen Austausch, der über kulturelle Grenzen hinweg stattfindet, ermöglicht ihnen eine Teilhabe am Berufsleben ein eigenständiges und selbstverantwortetes Leben." Gerade jungen Frauen mit islamischen Wurzeln gelingt es nicht automatisch, Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu finden. Kulturelle Barrieren in der Herkunftsfamilie, aber auch Stereotype der Aufnahmegesellschaft erschweren ihnen die Suche nach einem passenden Job. Die mit der Exklusion migrantischer Frauen vom Arbeitsmarkt verbundenen Risiken gehen weit über die damit verbundenen ökonomischen Risiken hinaus. Die Chancen ihrer Kinder als starke Menschen heranzuwachsen, sind eng mit der Selbstständigkeit ihrer Mütter verbunden.
Dossier: So schaffen wir das - Die Debatte zur Flüchtlingskrise
"Wir schaffen das" ist zum geflügelten Ausspruch in der Flüchtlingskrise geworden. Doch wie kann eine realistische Willkommens- und Integrationspolitik künftig aussehen? Darüber lässt katholisch.de in einer Serie Experten aus unterschiedlichen Bereichen diskutieren.Die Diskussion um die Arbeitsmarktchancen der Flüchtlinge ist von einer zweiten Schieflage bedroht; sie hängt mit Erwartungen und Enttäuschungen bezüglich ihrer Qualifikation zusammen: Nachdem manchem im Sommer 2015 der syrische Ingenieur oder Arzt als Inbegriff des Flüchtlings erscheinen konnte, greift nun die Sorge um sich, es seien ganz überwiegend funktionale Analphabeten zu uns unterwegs, deren Integrationschancen in den deutschen Arbeitsmarkt bei Aushilfsjobs in der Gastronomie enden. Beide Bilder sind falsch und überzeichnen die Wirklichkeit in die eine oder andere Richtung. Tatsächlich kommen sehr unterschiedliche Menschen als Flüchtlinge nach Europa, deren Kompetenzen und Potenziale zu entdecken sind.
Chancen der Digitalisierung nutzen
Dabei müssen wir uns von liebgewonnen Vorstellungen lösen, was unabdingbar sei, um sich im 21. Jahrhundert in der (Arbeits-)Welt zurecht zu finden. Die modernen Kommunikationsmittel ermöglichen Informationstransfers auch unabhängig von der Fähigkeit, Texte in lateinischer Schrift zu lesen. Die Flüchtlinge haben mit ihren Handys den Weg über das Mittelmeer und die Balkanroute zu uns gefunden, sie sind auch in der Lage sich hier mit den neuen Technologien zu orientieren. Diese Kompetenzen müssen wir nutzen und stärken. Digital natives, die zu uns kommen, sind keine problematischen "funktionalen Analphabeten", wenn wir bereit sind, mit Hilfe der neuen Medien zu kommunizieren. Es macht Mut zu sehen, an wie vielen Stellen nicht nur Start-ups Flüchtlinge auf diese Weise unterstützen, sondern dass auch große "Tanker" - wie der Bayerische Rundfunk oder das Bundesamt für Flüchtlinge und die Bundeszentrale für politische Bildung - diese Chancen aktiv ergreifen.
Die Fragen, wie wir unsere Gesellschaften, Arbeitsmärkte und Wohnviertel für die Flüchtlinge öffnen können, ohne dass Ängste vor "Überfremdung" und Überforderung zu populistischen Gegenreaktionen führen, die nicht nur den Asylsuchenden, sondern uns allen das Leben in Frieden und Freiheit schwer machen, werden die politisch Verantwortlichen noch lange begleiten. Mit dem Ende der Kultur des Wegsehens ist noch lange nicht der Wechsel hin zu einer Kultur der Begegnung gelungen. Unübersehbar ist aber, dass der Zivilgesellschaft, kirchlichen, sportlichen und gewerkschaftlichen Initiativen eine entscheidende Bedeutung zukommt, damit der Kulturwechsel gelingt. Ohne eine erneuerte Vita Activa, die Raum schafft für eine Kultur des Helfens, eine Kultur der Zusammenarbeit und der Gleichberechtigung, wird Politik allein die Aufgaben nicht lösen können, die sich uns bei der Gestaltung der Aufnahme der Flüchtlinge stellen.