Herausforderung und Chance
Frage: Ist das Stundengebet nach vielen Jahrhunderten, in denen es wie selbstverständlich gebetet wurde, heute in die Krise geraten?
Saberschinsky: Man müsste viel eher fragen: Ist das Stundengebet jemals aus der Krise herausgekommen? Leider ist die Krise des Stundengebetes hausgemacht. Jahrhunderte lang wurde das Stundengebet als so genanntes Breviergebet nur von Klerikern und Ordensleuten geübt. Damit wurde es auch im Bewusstsein der übrigen Gläubigen zu einem Standesgebet für Spezialisten und man betete statt dessen den Rosenkranz oder den Engel des Herrn. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Tat die Weichen gestellt, diese Engführung wieder aufzubrechen und das Stundengebet zu einem Gebet der ganzen Kirche, von Laien und Klerikern, zu machen. Trotz vieler guter Ansätze ist dies noch nicht in der Breite gelungen. Sicherlich kann man fragen, ob auch das nachkonziliare, reformierte Stundenbuch noch zu kompliziert ist und man nicht weitere Hilfe anbieten sollte. Doch wir stecken derzeit generell in einer Krise des Gebets, von der auch das Stundengebet nicht verschont bleibt.
Frage: Wird nicht auch allzu oft selbst in der Kirche der Eindruck vermittelt, wer sozial und mitmenschlich tätig ist, macht mehr, als der, der das Stundengebet betet?
Saberschinsky: Richtig ist, dass sich die Liturgie auch an der Diakonie bewähren muss, d.h. wir können nicht das Gebet pflegen und uns nicht für die Not der Nächsten interessieren. Das wäre scheinheilig. Letztlich geht es um den einen Glauben, der in der Feier des Stundengebets ebenso seinen Ausdruck findet wie in Taten der Nächstenliebe. Ich kann nicht das eine ohne das andere tun. Doch wer sich als Christ für die Mitmenschen einsetzt, muss sich auch immer wieder seiner Wurzeln vergewissern, damit er nicht in blinden Aktionismus verfällt. Das Stundengebet kann hierzu eine große Hilfe sein: Ich weiß mich im Gebet mit Christus vereint – ihm begegne ich auch im Nächsten.
Zur Person
Dr. Alexander Saberschinsky ist Liturgiereferent beim Erzbischöflichen Generalvikariat Köln. Fünf Jahre lang war er Bibliotheksleiter am Liturgischen Institut in Trier. Durch zahlreiche Vorträge, und seine Dozenten- und Referententätigkeit ist er als Fachmann auf dem Gebiet des Stundengebets ausgewiesen.Frage: Reicht es nicht aus, persönlich formulierte Gebete zu sprechen?
Saberschinsky: Wer das Stundengebet betet, betet nicht allein. Er betet es immer in Gemeinschaft mit der größeren Gemeinschaft der Kirche. Aber auch wer das Stundengebet alleine betet, weiß sich immer mit der kirchlichen Gemeinschaft eng verbunden. Dies kommt unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass man sich feststehender, gemeinsamer Formen bedient und beispielsweise die Psalmen in den Mittelpunkt des Gebets stellt.
Entscheidend ist aber der Gedanke, dass die Kirche vom Gebet aller Gläubigen getragen wird. In Sachen Gebet müssen alle "Profis" sein; das kann man nicht an Priester und Ordensleute delegieren, auch wenn sie sich in besonderer Weise dem Gebet widmen.
Frage: Konstruiert das Stundengebet nicht eine Kluft zwischen der bösen Welt hier, die durch das fromme Stundengebet auf der anderen Seite erst geheiligt werden muss?
Saberschinsky: Nein, das wäre ganz falsch. Wir leben nicht in einer bösen Welt, die erst im Nachhinein durch das Gebet geheiligt werden müsste. Das Gebet ist nicht wie eine Käseglocke, die man dieser Welt überstülpen müsste. Gott hat seine Schöpfung ‚gut’ gemacht. Mehr noch: In Jesus Christus hat er alles neu geschaffen. Was könnte der Mensch dem noch hinzufügen? Unbestritten ist jedoch, dass man all das leicht vergisst, sozusagen "gottvergessen" wird. Daher ist das Stundengebet sinnvoll: An bestimmten Stunden des Tages gedenken die Kirche und die Beter dessen, was Gott für sie getan hat: So erinnert man sich am Morgen besonders der Auferstehung und am Abend vor allem des erlösenden Kreuzestodes. Dies sind die wichtigsten Tagzeiten, doch auch zu anderen Stunden wird im Gebet das Leben gleichsam in das Licht Gottes gehalten, so dass hinter dem Alltag die größere Wirklichkeit Gottes aufscheinen kann.
„Wenn wir die Psalmen beten, beten wir mit ihm.“
Frage: Kann es sinnvolle "Rollenverteilung" im Stundengebet auch ohne Priester und Ordensleute geben?
Saberschinsky: Das Stundengebet ist Gebet der Kirche, und wer da ist, kann es feiern. Es ist schön, wenn auch die verschiedenen Ämter und Rollen, die es in der Kirche gibt, vertreten sind, um den kirchlichen Charakter des Stundengebets zu verdeutlichen. Doch kann man das Stundengebet auch ganz ohne Priester oder Diakon beten. Abgesehen von anderen Segensformulierungen am Ende ändert sich nichts und muss nichts weggelassen werden. Aber auch ohne Priester ist es sinnvoll, einzelne Rollen zu verteilen: Vorbeter oder Vorsänger, Lektor, Fürbitten usw. In der Liturgie sollte nicht einer alles alleine machen.
Frage: Das Stundengebet beinhaltet insbesondere die alttestamentlichen Psalmen. Wie kann man aus ihnen lebendig beten?
Saberschinsky: Die Psalmen haben großen Tiefgang; man kann ein Leben lang von ihnen zehren. Sie schöpfen aus dem vollen Leben. Doch wichtiger noch ist: Sie sind auch das Gebetbuch Jesu gewesen. Wenn wir die Psalmen beten, beten wir mit ihm. Auch lassen sich die Psalmen durchaus auf Christus deuten: Einige Psalmen sprechen – gewissermaßen im Vorgriff auf das Neue Testament – scheinbar über ihn, andere richten sich an ihn als Adressaten, und wieder andere können als die Stimme des betenden Christus verstanden werden. So gedeutet werden die Psalmen zu einem lebendigen Gebet.
Frage: Wie sinnvoll ist die Verbindung von Teilen des Stundengebets mit der Feier der Eucharistie?
Saberschinsky: Die Verbindung von Stundengebet (Laudes, Vesper) mit der Eucharistiefeier ist zwar möglich und wird auch im offiziellen Stundenbuch erwähnt. Aber das sollte die Ausnahme bleiben, denn Stundengebet und Eucharistie sind zwei unterschiedliche liturgische Formen mit ihrem jeweiligen Eigencharakter, dem man weniger gerecht wird, wenn man diese beiden Feiern miteinander verbindet. Es geht ja beim Stundengebet nicht um ein Pensum, das man absolvieren müsste, notfalls durch Zusammenlegung mit anderen Gottesdiensten.