Wenn der Blitz einschlägt
Sie gibt Menschen das Rüstzeug an die Hand, mit Trauer leben zu lernen und wieder aus ihr heraus ins Leben zu finden. Schroeter-Rupieper ist in der Aus- und Weiterbildung von Trauerbegleitern tätig und leitet das Institut für Familientrauerbegleitung "Lavia" in Gelsenkirchen.
Frage: Frau Schroeter-Rupieper, wie reagieren und empfinden Menschen nach dem Tod eines lieben Angehörigen? Wie kann sich Trauer äußern?
Schroeter-Rupieper: Viele verdrängen den Tod, sie können und wollen die Nachricht vom Tode des geliebten Menschen nicht wahrhaben und glauben vorerst an eine Verwechslung. Noch fern vom Verstehen und Begreifen fühlen sie sich wie unter Schock - erstarrt und gelähmt. Es folgen Zeiten extremer Stimmungsschwankungen: Weinen, traurig sein, alles sinnlos finden, innere Leere, emotionaler oder sozialer Rückzug, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Angst, aber auch Überaktivität, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle bis hin zu Suizidgedanken, Sinnsuche, Hadern mit Gott. All dies sind Zeichen von Trauer. Wird der Trauerschmerz verdrängt, kann er sich in körperlichen Symptomen und auffälligen Verhaltensäußerungen zeigen. Deshalb ist Trauerarbeit wichtig.
Frage: Wie arbeiten Sie selber in Ihrer Praxis als Trauerbegleiterin? Wie können Sie Verzweifelten helfen?
Schroeter-Rupieper: Der Psychotherapeut J. W. Worden hat ein Trauermodell entwickelt, mit dem ich in meiner Praxis als Trauerbegleiterin arbeite. Ich habe dabei oft erfahren, dass es trauernden Familien hilft zu verstehen, was sie tun können, um die Zeit der Trauer besser zu überstehen. J. W. Worden ist der Ansicht, dass man als Trauernder vier Aufgaben erarbeiten muss, um die Trauer zu bewältigen.
Frage: Können Sie diese vier Aufgaben skizzieren?
Schroeter-Rupieper: Zunächst einmal geht es darum, den Verlust überhaupt zu begreifen und ihn zu akzeptieren. Erst wenn ich begriffen habe, dass der Verstorbene nicht verreist, sondern wirklich tot ist, kann ich zu trauern beginnen. Dann geht es darum, die oft zwiespältigen Gefühle und den Verlustschmerz zuzulassen. In der Trauer kann es nämlich zu ganz unterschiedlichen Gefühlen kommen: Traurigkeit, Wut, Angst, Sehnsucht, Erleichterung und vieles mehr. All diese Gefühle sind normal und auch, dass innerhalb einer Familie alle unterschiedliche Gefühle haben. All das darf sein. Wichtig ist nur, die anderen durch Aussagen oder Verhaltensweisen nicht zu verletzen oder von ihnen zu erwarten, dass sie das Gleiche fühlen wie man selbst. Eine weitere wichtige Aufgabe ist es zu lernen, sich in seinem völlig veränderten Leben zurechtzufinden. Wenn ein Familienmitglied stirbt, verändert sich nämlich vieles innerhalb der Familie. Arbeiten müssen anders verteilt, Familienrituale neu überdacht und eventuell auch verändert werden, die Wohnung wird neu aufgeteilt. Allen wird schmerzlich klar: Es wird nie wieder wie vorher.
„Wichtig ist, dass es einen Platz gibt, an dem ich den Toten besuchen kann, wenn ich es möchte.“
Frage: Was kann helfen, seinen eigenen neuen Platz im Leben ohne den verstorbenen Angehörigen zu finden?
Schroeter-Rupieper: Dem Verstorbenen einen Ort zuzuweisen und sich selbst auf ein neues Leben einzulassen, ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe der Trauerarbeit und die letzte der vier Aufgaben von Wordens Trauermodell. Wenn ich akzeptiert habe, dass der Verstorbene tot ist, wird es mir helfen, ihm nun einen neuen "Ort" zu geben. Er hat nicht mehr seinen realen Platz am Esstisch oder im Auto. Aber vielleicht kann ich ihn mir an einem anderen Ort vorstellen: im Himmel, in meinem Herzen, an meiner Seite, im Foto auf dem Schreibtisch, auf dem Friedhof, auf einem Stern oder an einem anderen Ort. Dieser Ort kann sich auch verändern. Wichtig ist, dass es einen Platz gibt, an dem ich den Toten "besuchen" kann, wenn ich es möchte.
Frage: Läuft Trauer immer nach dem gleichen Muster ab?
Schroeter-Rupieper: Nein, jeder trauert anders und empfindet eben auch seine Trauer anders. Dennoch ähneln die Reaktionen Trauernder einander. Es kann beruhigend wirken zu wissen: "Meine Reaktion ist normal, aber nicht bedrohlich. Anderen Menschen geht es manchmal ähnlich." Es gibt Tage, an denen Trauernde glauben, wieder Boden unter den Füßen zu fühlen. Sie gehen unter Leute, nehmen aktiv am Leben teil, weinen nur noch selten. Doch dann wirft sie eine Belanglosigkeit aus der Bahn. Eine Meinungsverschiedenheit mit dem Partner oder dem Chef, das trotzige Kleinkind oder die Null-Bock-Einstellung des pubertierenden Jugendlichen wirken dann wie eine Initialzündung. Man fühlt sich schwach, verletzlich, in die Trauer zurückgeworfen.
Frage: Können Trauernde sich auf solche Rückschritte vorbereiten?
Schroeter-Rupieper: Wichtig ist einfach das Wissen darum. Lange und kurze, heftige und leichte Reaktionen sind in Trauerzeiten nämlich meist unvorhersehbar. Ein passendes Bild ist das einer Flutwelle. Je mehr man dagegen ankämpft, desto schneller geht man darin unter. Schwimme ich aber mit der Welle, wird sie mich tragen.
„Wichtige Aspekte, die die Trauerzeit positiv beeinflussen, sind ein gutes soziales Umfeld und ein stabiles Selbstwertgefühl.“
Frage: Mit dem Tod eines nahen Menschen verändert sich auch das eigene Leben. Wie können Angehörige neue Perspektiven finden?
Schroeter-Rupieper: Wichtig ist eine Selbstreflexion: Wie beeinflusst der Tod des Verstorbenen meinen Lebensalltag, das Selbstbewusstsein, die Glaubensvorstellungen und Werte? Ich beschreibe Trauernden gern das Bild von zwei nebeneinander stehenden Bäumen, deren Baumkronen ineinander übergehen, sich sozusagen fast verschmelzen. Plötzlich schlägt der Blitz ein und zerstört einen der Bäume. Es vergeht eine lange Zeit, bis dem übrig gebliebenen Baum eine neue Krone nachwächst, die auf Dauer kraftvoll, aber auch empfindlich sein kann. Aber das Tröstliche: Sie wächst – langsam und unaufhörlich. Dies beschreibt sehr gut das Leben von Hinterbliebenen. Ich helfe ihnen herauszufinden: Was macht mich aus? Wo liegen meine persönlichen Stärken – abgekoppelt vom früheren Leben zu zweit? Was kann ich tun, um mein eigenes Wachstum zu stärken und zu fördern? Hier können ganz praktische Dinge helfen, einen neuen, selbständigen Weg zu finden – sei es durch ein Ehrenamt oder durch neue Aufgaben, die sonst der Partner übernommen hatte.
Frage: Wie lange trauern Menschen in der Regel?
Schroeter-Rupieper: Dies lässt sich nicht verallgemeinern. Eine realistische Zeitspanne: von einem Jahr bis zu fünf Jahren. Beim Tod eines Kindes kann sich das aber auch um Jahre verlängern. Wichtige Aspekte, die die Trauerzeit positiv beeinflussen, sind ein gutes soziales Umfeld, ein stabiles Selbstwertgefühl, gesunde Ernährung, frische Luft, ein geregelter Tagesablauf, Rückzugsmöglichkeiten, Gespräche sowie eine eigene Lebensphilosophie, die Hoffnung und Halt gibt.
Frage: Wie könnte eine solche Lebensphilosophie aussehen?
Schroeter-Rupieper: Die Lebensphilosophie meint unsere grundsätzliche Einstellung zum Leben und kann sowohl ein Lebensmotto wie auch den Glauben an Gott oder ein anderes Hoffnungsbild umfassen. Einige Beispiele: "Es gibt immer Höhen und Tiefen, das wechselt sich ab. Ich bin gewiss: Nach jedem Tief geht es auch wieder bergauf." – "Nichts ist verloren, was in meiner Erinnerung weiterlebt." – "Nicht die Länge, sondern die Qualität des Lebens zählt." – "Es gibt einen Gott, in dessen Hand wir leben und sterben. Nie sind wir allein und verlassen." – "Wenn es wundersame, unglaubliche Verwandlungen in der Natur gibt wie die der Puppe hin zum Schmetterling, der Kaulquappe zum Frosch, des Samens zum Baum: Warum soll da eine Verwandlung im Tod nicht möglich sein?"