Schwester Birgit Stollhoff über das heutige Sonntagsevangelium

Die Nächstenliebe des fremden Mannes

Veröffentlicht am 10.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Sr. Birgit Stollhoff CJ – Lesedauer: 
Ausgelegt!

Bonn ‐ Wer ist zuständig für den Fremden in der Not, wer ist mein Nächster? Jesus verweigert im Gleichnis vom "Barmherzigen Samariter" die gewünschte Definition. Maria-Ward-Schwester Birgit Stollhoff legt das Sonntagsevangelium aus.

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Impuls von Schwester Birgit Stollhoff

Wie gehe ich um mit dem Fremden in der Not? Die Frage ist heute aktueller denn je, wo sich nicht mehr nur der Reichtum globalisiert, sondern auch die Not. Wer kümmert sich um die Fremden, wer ist deren Nächster? In der Erzählung vom barmherzigen Samariter beantwortet Jesu die Frage auf seine Art.

Zuerst löst er die Begriffe von "fremd" und "zugehörig" auf: Die Frage, mit der die Erzählung beginnt, lautet: "Wer ist der Nächste, dem ich helfen muss, um vor Gott richtig zu handeln?" Der Nächste war damals nach jüdischem Recht der Mitbürger. Diese tun aber nichts. Möglicherweise aus gutem Grund, zumindest der Priester: Er hat vermutlich den Verletzten für tot gehalten. Und Reinheitsvorschriften haben ihm verboten, einen Toten anzufassen. "Bin ich überhaupt zuständig?" ist die erste Frage, die sich Juristen und Behörden stellen müssen um korrekt zu handeln. Wer das Gesetz fordert, muss es auch als Grund fürs Nichthelfen gelten lassen. Zugehörigkeit und Hilfe, sagt Jesus dagegen, bestimmen sich nicht nach dem Gesetz, Institutionen und Berufen. So macht sich der Mitbürger, der dem Anderen in der Not nicht hilft, zum Fremden.

Wer ist also der Nächste? Jesus verweigert die gewünschte Definition. Der Nächste, sagt Jesus, ist "derjenige, der…" - der die Not sieht, der handelt und so barmherzig ist. Während die Erzählung wenig darüber verrät, wer die Leute sind, erzählt sie viel und detailliert, wie der Samariter handelt. Pauschale "Du bist…-Aussagen", so beschreibt es das Konzept der "Gewaltfreien Kommunikation", verurteilen Menschen meist und machen so Beziehung unmöglich. Dagegen sind Sätze, die konkret das Tun und die eigene Empfindung ansprechen, ein Beziehungsangebot. Auch Barmherzigkeit legt Menschen nicht fest, sie definiert nicht. Es gibt nicht "den Nächsten". Liebe entdeckt den Anderen am Straßenrand. Barmherzigkeit hilft ohne Worte und Gesetz. Nur das eigene Handeln verändert Beziehungen und Sichtweisen.

Am Schluss reist der Samariter weiter, er fordert keine Dankbarkeit, keine Beziehung, er bleibt der Fremde. Vom hebräischen Wort "rechem" für Barmherzigkeit leitet sich auch das Wort für Mutterschoß und Gebärmutter ab. Es ist die bergende Liebe der Mutter für das ungeborene Kind. Im anderen Gleichnis ist der Vater barmherzig gegenüber dem fremd gewordenen Sohn. "Was tun Sie, Herr K., wenn sie einen Menschen lieben?" lässt Berthold Brecht fragen. "Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird." antwortet Herr K. "Wer – der Entwurf dem Menschen?" – "Nein" erwidert Herr K. "der Mensch dem Entwurf". Integration aus Furcht vor der Fremdheit, Beziehung aus Angst vor Konflikten kann eine Versuchung sein. Echte Barmherzigkeit dagegen hat keine Angst vor der Fremdheit des Fremden.

Der Samariter versorgt die Wunden des Verletzten mit Öl und Wein – also mit Symbolen der Sakramente Krankensalbung und Eucharistie. So wird der verletzte Fremde gleichsam zum Altar im Gottesdienst: "Was ihr diesem getan habt, das habt ihr mir getan."

Evangelium nach Lukas (Lk 10, 25-37)

In jener Zeit wollte ein Gesetzeslehrer Jesus auf die Probe stellen. Er fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?

Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben.

Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.  Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.

Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.

Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!

Die Autorin

Sr. Birgit Stollhoff CJ gehört dem Orden Congregatio Jesu (auch bekannt als Mary-Ward-Schwestern und "Englische Fräulein") an und arbeitet in der Öffentlichkeits- und Medienarbeit. Derzeit bereitet sie sich in Augsburg auf die Ordensgelübde auf Lebenszeit vor.

Ausgelegt!

Katholisch.de nimmt den Sonntag stärker in den Blick: Wie für jeden Tag gibt es in der Kirche auch für jeden Sonntagsgottesdienst ein spezielles Evangelium. Um sich auf die Messe vorzubereiten oder zur Nachbereitung bietet katholisch.de nun "Ausgelegt!" an. Darin können Sie die jeweilige Textstelle aus dem Leben Jesu und einen Impuls lesen. Diese kurzen Sonntagsimpulse schreibt ein Pool aus Ordensleuten und Priestern für uns.
Von Sr. Birgit Stollhoff CJ