Bischof Felix Genn über Sterbebegleitung und den Tod seiner Mutter

"Kirche sagt Ja zum Leben"

Veröffentlicht am 02.11.2015 um 00:01 Uhr – Von Markus Lahrmann – Lesedauer: 
Felix Genn ist seit März 2009 Bischof von Münster.
Bild: © KNA
Themenwoche Suizidbeihilfe

Münster ‐ In der Debatte über Sterbehilfe erkennt Bischof Felix Genn einen fragwürdigen Umgang mit menschlichen Grundwerten. Im Interview fordert er den Ausbau der Palliativversorgung und erzählt von den letzten Tagen seiner Mutter.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Frage: Bischof Genn, wir erleben derzeit eine öffentliche Debatte über Sterbehilfe. Warum ist das ein Thema für die Kirche und wie begründet sie ihre Position?

Genn: Das Thema fragt mich als Mensch und als Bischof an. Ich spüre die Notwendigkeit, dass wir uns als Kirche positionieren. Ich möchte aber differenziert argumentieren und will nicht, dass die Kirche verkürzt als Nein-Sager wahrgenommen wird. Wir sind "Ja-Sager"! Kirche sagt Ja zum Leben. Wir verteidigen hier etwas Humanes und nicht bloß eine spezielle christliche Sonderethik. Was heißt das? Der Mensch will von Natur aus leben. Viele Menschen kämpfen mit allen Mitteln ums Überleben. Das ist das Normale. Und beim Thema Sterbehilfe würde plötzlich etwas Normales unnormal. Wir verstehen einen Selbstmord auch als einen Ruf zum Leben, als einen Hilferuf. Bei einem Hilferuf leistet jeder normale Mensch instinktiv Hilfe. Und bei Alten und Todkranken soll das plötzlich unnormal werden? Wenn sie einen Hilferuf ausstoßen, dass sie sterben wollen, leisten wir nicht mehr Hilfe, sondern geben Gift? Oder beauftragen den Arzt, der bislang geheilt, gelindert, geholfen hat, die tödliche Dosis zu verabreichen? Das ist und bleibt falsch! Denn der Arzt ist derjenige, der Leben retten soll. Jetzt fordern manche Politiker und Publizisten, dass er in dieser speziellen Situation zum Todbringer wird. Damit entsteht für die ärztliche Profession die Gefahr, dass jeder Arzt Misstrauen hervorruft. Ist der Mann im weißen Kittel jetzt schon der "Todesengel" oder behandelt er noch zum Leben? Normal ist es, barmherzig zu sein und jemandem zu helfen, weil jeder auch bis in die letzte Phase seines gebrechlichen Lebens wertvoll ist.

Frage: Sie warnen vor einer Umwertung von Werten?

Genn: So ist es.

Debatte um die Suizidbeihilfe

Bisher ist die Beihilfe zum Suizid in Deutschland nicht strafbar. In der ersten Novemberwoche will der Deutsche Bundestag darüber entscheiden, ob das so bleibt. Aus diesem Anlass erläutert katholisch.de noch einmal die wichtigsten Begriffe und Positionen rund um das Thema Sterbehilfe und stellt Alternativen wie Hospizarbeit und Palliativmedizin vor.

Frage: Die Befürworter der Sterbehilfe berufen sich ebenfalls auf einen ethischen Wert: die freiheitliche Selbstbestimmung des Menschen soll ohne Einschränkung und bis zuletzt gelten.

Genn: Ich kann sehr gut verstehen, dass jemand in einer Grenzsituation von Schmerz und Leid zu der Vorstellung kommt, das Einzige was ihm jetzt noch hilft, ist sich selbst zu töten. Ich kann mir vorstellen, dass er das als letzten Freiheitsakt versteht. Ich selbst bin in einer solchen Situation noch nie gewesen und schaue deswegen mit Respekt und Empathie auf Menschen in einer solchen Situation. Trotzdem muss ich fragen: Was bedeutet hier eigentlich Freiheit? Es gibt zwei Grunddimensionen des Menschen, völlig unabhängig davon, ob er Christ ist oder nicht: Menschliches Leben ist Geschenk, ist Gabe. Als Mensch finde ich mich vor, ich kann sagen, ich bin in die Existenz hineingeworfen worden. Das anzunehmen heißt Leben. Was mache ich mit dem Geschenk? Es ist nicht nur wertvoll, solange ich produktiv bin, sondern bleibt auch wertvoll, wenn ich nicht mehr produktiv bin! Assistierte Suizidbeihilfe ist eine Entwertung gebrechlichen Lebens. Und: Menschliches Leben in Freiheit gibt es nur in  Verbindung mit dem Angewiesen-Sein auf andere. Freiheit ist nie absolut. Ich kann Freiheit nicht leben ohne gleichzeitig zu akzeptieren, dass ich angewiesen bin auf andere. Das klingt philosophisch, doch es betrifft den Kern menschlicher Existenz: Unser Freiheitsakt geschieht gerade dadurch, dass wir die unvermeidbare Angewiesenheit auf andere annehmen. Erst dadurch wird der Mensch er selbst und schafft es, sich selbst auch wert zu schätzen.

Frage: Können Sie ein Beispiel geben?

Genn: Ein Kind kann nur leben, wenn es seine Angewiesenheit lebt, das heißt, es ist angewiesen auf die Pflege durch die Eltern, auf Erziehung, Versorgung usw. Das Kind kann gar nicht anders. Das ist unser Mensch-Sein. Und dann darf ich sagen: ein Leben ist auch lebenswert, wenn ein Mensch total auf Pflege angewiesen ist. Indem ich dem anderen durch meine Pflege zeige, du darfst dir die Angewiesenheit zumuten.

Frage: Indem Sie so philosophisch argumentieren, erheben sie die Frage zu einer geistigen Grund-Entscheidung. Bei Umfragen bejahen über 70 Prozent auch die aktive Sterbehilfe, unter ihnen natürlich auch viele Katholiken. Machen es sich viele zu einfach?

Genn: Wer nur mit den Umfragen argumentiert, verschweigt die Folgen einer gesetzlichen Legalisierung der aktiven Sterbehilfe: Sie wäre ein Dammbruch. Der Arzt wäre plötzlich nicht mehr nur Heiler, sondern auch Tod-Bringer – je nach den Umständen. Plötzlich werden Werte umgewertet und etwas Unnormales wird als normal angesehen. Was für einen Druck könnte das auf alte Menschen ausüben? Wird dann gedacht oder gesagt: "Oma, wir haben doch so schön 80. Geburtstag gefeiert, jetzt ist es doch eigentlich genug? " Und die Oma denkt: "Ja, wenn ich den Kindern damit einen Gefallen tun kann, ob ich jetzt noch zwei Jahre… Man weiß ja nicht, was kommt… ". Ich möchte nicht die Oma abends im Bett liegen sehen, die dann weint, weil sie nicht mehr gewollt ist, und sich den Kindern nicht mehr zumuten will. Dieser Dammbruch wird gar nicht durchdacht, sondern man arbeitet lieber mit Horrorgeschichten von Leid und Schmerz.

Player wird geladen ...
Video: © katholisch.de

Die katholische Kirche hat eine klare Position: Sterbehilfe ist keine Option. Sie befürwortet hingegen palliativmedizinische Angebote. Palliativ-Schwester Claudia Reifenberg kümmert sich um Sterbende - und spricht mit katholisch.de darüber.

Frage: Die gibt es.

Genn: In der Tat gibt es Grenzsituationen. Ein Sterben mit extremem Schmerz betrifft jedoch nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung. 90 Prozent werden nicht übermäßig leiden. Doch diese ethischen Grenzsituationen bei zehn Prozent der Bevölkerung dürfen wir nicht zum Maßstab einer allgemeinen Gesetzgebung machen. Im Gegenteil, wir  müssen mit Palliativmedizin und Hospizbewegung alles tun, um Schmerz und Leid zu vermeiden. Das ist medizinisch weitestgehend möglich. Lebensqualität lässt sich erhalten, wenn auch eingeschränkt. Auf der anderen Seite müssen und können wir die Furcht vor der Apparatemedizin nehmen. Schon heute können die Ärzte auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichten. Da gilt es, ethisch verantwortungsvoll zu handeln – und das geschieht auch.

Frage: Beim Einsatz von extremen Schmerzmitteln gilt es ärztlicherseits abzuwägen: Gehe ich gegen die Schmerzen vor und nehme eine Bewusstseinstrübung in Kauf oder lasse ich ihn das erdulden und mute ihm Unmenschliches zu?

Genn: Trotzdem ist es ein großer Unterschied, ob ein Arzt in einer ethischen Grenzsituation nach sorgfältiger Abwägung eine Überdosis an Beruhigungs- und Schmerzmitteln verschreibt – was vorkommt – oder ob ein privater Verein mit dem Tod auf Rezept noch Geld verdient – wie diese Schweizer Gesellschaft…

„Wer dort von einem Arzt die Todesspritze verlangt und sie dann erhält, fühlt sich doch in seinem momentanen Selbsturteil auch noch durch die hohe Autorität des Arztes bestätigt.“

—  Zitat: Bischof Felix Genn

Frage: In den USA gibt es zwei Bundesstaaten, die die Sterbehilfe legalisiert haben, es gibt den ärztlich assistierten Suizid in den Niederlanden und Belgien. Das sind zivilisierte Nationen, in denen der Dammbruch schon vollzogen ist?

Genn: Ja. Was ich aus diesen Ländern höre, bestärkt mich in meiner  Auffassung. Dort entsteht eine Atmosphäre, in der die Gesellschaft  gebrechlichen Menschen ein inneres Gefühl der Sinnlosigkeit bestätigt. Es wird signalisiert, es gebe einen Punkt im Leben, da könne man verstehen, dass jemand sagt, "jetzt hat mein Leben keinen Sinn mehr". Wer dort von einem Arzt die Todesspritze verlangt und sie dann erhält, fühlt sich doch in seinem momentanen Selbsturteil auch noch durch die hohe Autorität des Arztes bestätigt. Wir Christen glauben etwas anderes: Durch unsere Palliativmedizin, durch unsere Hospize sagen wir diesen Menschen: Auch wenn du selbst an deinen Wert nicht mehr glaubst, wir glauben an deinen Wert. Die Hospizbewegung ist unsere christliche Antwort gegen die aktive Sterbehilfe! Meine Erfahrung mit Menschen in der Hospizarbeit hat mich immens tief in meinem Christsein bestärkt, weil ich dort echte Barmherzigkeit verwirklicht sehe.

Frage: Die barmherzige Begleitung und das Umsorgen von Gebrechlichen und Sterbenden gehören zur Tradition der Kirche.

Genn: Seit ich 1999 Weihbischof geworden bin, ist es mir ein Anliegen, die Hospizbewegung zu stärken. Diese Männer und Frauen, die die Sterbenden begleiten, zeigen wahre christliche Nächstenliebe. Ich hatte etliche bewegende Begegnungen und diese Pflegenden zeigen uns, wie Menschen wirklich in Würde leben dürfen und sterben können. Denn der Tod ist keine mechanische Größe, sondern eine anthropologische. Er gehört zum Leben dazu. Wir als Katholiken und überhaupt die Christen haben aus der Tradition kommend etwas anzubieten: die sogenannte "Ars moriendi".

Ricam-Hospiz in Berlin. Eine Pflegerin hält die Hand einer Patientin.
Bild: ©KNA

Eine Pflegerin hält die Hand einer Patientin. Die Kirche fordert einen Ausbau der Palliativversorgung.

Frage: Die Kunst zu sterben, was meinen Sie damit?

Genn: Der Mensch kann sich darauf einstellen, dass sein Leben zu Ende geht. Dabei kann er sich von der modernen Medizin die Hilfen geben lassen, die sie ermöglicht, zum Beispiel die ganze Schmerztherapie. Wenn das gelingt, und auch die Art und Weise, wie gepflegt wird, dazu führt, dass man in einem guten Umfeld von seinem Leben Abschied nehmen darf – dann  ist das für mich "Ars moriendi". Sterben bedeutet, nicht nur chemisch oder mechanisch, sondern ganzheitlich das Leben zu vollenden. An der Hand von Verwandten, Freunden oder anderen, die helfen, diese letzte Lebensphase gut durchzustehen – das ist auch eine Kunst. In unseren Hospizen wird diese Kunst fast wie eine Ästhetik praktiziert. Da riecht es nicht etwa nur nach Medikamenten, sondern da wird man als Gast empfangen und kann sich – sogar als total Gesunder – wohlfühlen.

Frage: Die Palliativmedizin müsste weiter gestärkt und ausgebaut werden?

Genn: Es ist notwendig, die Atmosphäre und Mentalität eines Hospizes auch in anderen Bereichen zu fördern. Dafür gilt es natürlich auch, die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Bei der Debatte werde ich den Verdacht nicht los, dass hinter der gesamten Bewegung zur Legalisierung der Sterbehilfe starke ökonomische Interessen in einem Gesundheitssystem stehen, dessen Schwierigkeiten unübersehbar sind. Aber Finanzprobleme eines Gesundheitssystems auf Kosten der Schwächsten auszutragen, halte ich für völlig unangemessen in einer Gesellschaft wie der unseren.

Frage: Was sollte geschehen, um die Menschen die im Hospiz tätig sind, auch zu wertschätzen und würdigen?

Genn: Die stärkste Wertschätzung, die ich diesen Frauen und Männern gegenüber bringe, ist, wenn ich ihnen sage: "Ihr habt mich überzeugt. Ich erlebe hier ein starkes Zeugnis, das mich zutiefst berührt." Das Konzil sagte: "Die Wahrheit spricht kraft ihrer selbst". Hier ist es die Liebe, die kraft ihrer selbst spricht. Sie müssen wir verbreiten und weitersagen, wo immer wir können. Viele Menschen beschäftigen sich ja nur oberflächlich mit der Frage und es wird für die allermeisten erst dann zum drängenden Problem, wenn sie mit einem Einzelnen und seinem Geschick, seinem Leid, seiner Not, seinen Schmerzen konfrontiert werden. Dann müssen wir da sein, aber schon vorher müssen wir sensibel reden und argumentieren!

Player wird geladen ...
Video: © katholisch.de

Sterben gehört zum Leben dazu: Susanne Littfinski, die Bonner Heimleiterin des St. Vinzenzhaus und CBT-Wohnhaus Emmaus, berichtet über "Integrierte Hospize im Altenheim".

Frage: Haben Sie selbst einen Menschen bis in den Tod begleitet?

Genn: Meine Mutter.

Frage: Wie war das?

Genn: Es war ein Prozess von mehreren Tagen. Ich habe das so empfunden, als wenn eine Kerze runterbrennt und langsam verlöscht. Als sie ausgerechnet am Fest der Verklärung Christi starb,  wusste ich als Christ, dass sie vom Sterben zum ewigen Leben übergegangen ist. Dass ich dieses Sterben am Schluss auch noch als schön empfand, weil es unausweichlich war und trotzdem so menschenwürdig geschah, hat mich als Sohn getröstet.

Hinweis

Das Interview mit Bischof Felix Genn zum Thema Hospiz erschien zuerst im Januar 2015 in der Zeitschrift "Caritas in NRW".
Von Markus Lahrmann