Ein "musikalisches Gebet"
Frage: Herr Walter, wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Lieder aus dem Gotteslob theologisch zu analysieren?
Walter: Ein evangelischer Orgellehrer hat mir schon als Schüler erklärt, wie viel an Einsichten, an Theologie und Spiritualität in den Kirchenliedern steckt. In meinem katholischen Theologiestudium aber kam das dann merkwürdigerweise gar nicht vor, was ich schade fand. Im Rahmen meiner Honorarprofessur an der Musikhochschule Freiburg habe ich mir nun überlegt, wie man den Studierenden der Kirchenmusik etwas über Theologie beibringt. Statt nur Texte von Augustinus, Thomas von Aquin oder den Konzilien zu lesen, beschäftigen wir uns auch ausgiebig mit den Liedern, die wir ohnehin Woche für Woche spielen und singen. Hinzu kam die Zusammenarbeit mit einer Bistumszeitung, die traditionelle Kirchenlieder vorstellen wollte. Irgendwann hatte ich dann rund 50 Liedporträts zusammen, von denen ich jetzt 40 zu einem Büchlein zusammengestellt habe. Darin sind die wichtigsten theologischen Themen, das Kirchenjahr und kompositorische Aspekte berücksichtigt: zum Beispiel das älteste Osterlied oder die theologischen Facetten in Marienliedern.
Frage: Welche theologischen Aspekte finden sich denn im neuen Gotteslob?
Walter: Es gibt eigentlich kein wichtiges theologisches Thema, das nicht auch in Liedern vorkommt. Wenn das so wäre, fände ich das höchst bedenklich. Aber es sind neben den klassischen Themen neue Facetten im Gotteslob zu finden. Es gibt zum Beispiel mehr Lieder wie "Dieser Tag ist Christus eigen", die den Sonntag selbst thematisieren. Dann wurden verstärkt Lieder zur Klage aufgenommen sowie biblisch inspirierte Lieder. Auch hat es einen Zuwachs an ökumenischen Liedern gegeben, weil man gemerkt hat, dass es größere Schnittmengen zwischen den Konfessionen gibt. Zu manchen Themen findet man allerdings so gut wie gar keine passenden Lieder, die sowohl theologisch gut als auch neu und in den Gemeinden praktikabel sind. Das war oder ist zum Beispiel bei neuen Marienliedern oder bei solchen mit feministischer Theologie der Fall.
Frage: Gibt es noch weitere Schwerpunkte?
Walter: Da wären noch die Gesänge zu den Tagzeiten zu nennen, außerdem etwa Vertrauenslieder oder Weihnachtslieder, die auf der Grenze zwischen Kirchenlied und geistlichem Volkslied stehen. "O du fröhliche" wurde beispielsweise in den Hauptteil aufgenommen, genau wie "Der Mond ist aufgegangen". Auch dieses Lied ist tief fromm, selbst wenn es nicht für den Gottesdienst, sondern eher für die häusliche Abendandacht geeignet ist. Das gehört in ein Gebet- und Gesangbuch, das auch ein Hausbuch für jeden Tag sein will. Die Bereiche Taizé, ostkirchliche Gesänge und Neue geistliche Lieder kommen auch noch hinzu.
Frage: Einerseits sind im neuen Gotteslob Lieder gestrichen worden, andererseits neue hinzugekommen. Findet sich im neuen Gesangbuch auch in gewisser Weise der aktuelle „Zeitgeist“ der Kirche wieder?
Walter: Das ist eine spannende Frage. Ich denke, dass man das an einigen Beispielen sehen kann. Im 19. Jahrhundert wollte sich eine oftmals bedrängte Kirche in Liedern mit fast militärischen Klängen formieren. In der Originalfassung von "Ein Haus voll Glorie schauet" ist die Kirche die uneinnehmbare Trutzburg, die sich im geistigen Streit auf ihre Waffen besinnt. Das Lied ist dann nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – wie ich finde – gut verändert worden. Die Zeile "Sein wandernd Volk will leiten der Herr in dieser Zeit" ist ohne die Impulse des Konzils, das die Kirche als pilgernde Kirche bezeichnet, nicht vorstellbar. Es ist auch ein Unterschied, ob die Kirche sich als die präsentiert, die auf alles immer schon die richtige Antwort hat oder ob ein Lied "Suchen und fragen, hoffen und sehen" heißt. Da wird ein neues Glaubensbewusstsein sichtbar: Wir haben nicht auf alles eine Antwort und das Irdische ist nur eine Vorstufe unserer Pilgerschaft zum Ewigen. Zudem wird eine neue Struktur deutlich: Wir glauben miteinander, aneinander und auch füreinander; und dennoch bleibt der Refrain "So spricht Gott sein Ja …" entscheidend, weil christlicher Glaube sich nicht in zwischenmenschlichen Tugenden erschöpft. Kirchenlieder ohne einen Bezug zur Transzendenz werden bald eintönig.
Frage: Wer ist letztlich – neben Kirchenmusikstudenten – die Zielgruppe ihres Buches?
Walter: Ich habe versucht, es für einen breiteren Kreis zu schreiben. Für alle, die sich jetzt mit dem neuen Gotteslob beschäftigen und hinter die Kulissen der Lieder schauen wollen. Außerdem ist es für all die geeignet, die Gottesdienste vorbereiten und die Liedauswahl treffen. Die müssen sich ja die Frage stellen: Nach welchen Kriterien wähle ich das Lied aus? Zudem sind Impulstexte beigegeben, um Lieder mit einem Wort des Autors oder Komponisten einführen zu können. Und dann denke ich noch an eine Sache, die in Vergessenheit geraten ist, aber wiederkommen könnte: die sogenannte Liedpredigt. Da befassen sich pastorale Mitarbeiter in einer Ansprache – zum Beispiel an Ostern - mit einem Kirchenlied wie "Christ ist erstanden". Anhand dessen kann man alles, was es zu Ostern zu sagen gibt, zur Sprache bringen, wobei diese Sprache dann vom Bericht über Erklärung bis zum Gebet reicht. Das gilt genauso für Weihnachts- oder Pfingstlieder.
Frage: Zum Abschluss noch etwas Persönliches. Haben Sie ein Lieblingslied aus dem neuen Gotteslob?
Walter: Ich habe viele Lieblingslieder, auch immer wieder neue. Das ist bei mir ein Prozess. Es kommt darauf an, womit ich mich gerade beschäftige. Ein Lied, auf das ich immer wieder zurückkomme, ist "Wer nur den lieben Gott lässt walten". Es ist so sehr zeitgebunden und dennoch überzeitlich. Am Ende bleibt es sogar rätselhaft und geheimnisvoll, wie es so ein Lied schafft, über Jahrhunderte in allen möglichen Kulturkreisen und Gesangbüchern verschiedenster Sprachen lebendig zu bleiben. Obwohl es so zeitgebundene Formulierungen wie "Freudenstunden" und "Drangsalshitze" enthält, scheint doch jedes Kind eine gewisse Idee von der Bedeutung der Worte zu haben. Außerdem wird das Singen an sich im Lied zum Thema, was ich ebenfalls sehr mag. "Sing, bet und geh auf Gottes Wegen" ist einfach eine Kurzformel des christlichen Glaubens. Es geht nicht ohne Gesang, der zum musikalischen Gebet werden kann.