Bischof Norbert Trelle plädiert für neue europäische Flüchtlingspolitik

Macht hoch die Tür?

Veröffentlicht am 16.12.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Ein kleiner Junge in einem Flüchtlingslager.
Bild: © KNA
Gastbeitrag

Bonn ‐ Macht hoch die Tür, die Tor macht weit...", so lautet der Text eines beliebten Adventsliedes. Es handelt von der erwarteten Ankunft des Heilands, unseres Herrn Jesus Christus. Es ist derselbe Jesus, der nicht als weltlicher König, sondern in einem elenden Stall das Licht der Welt erblickte und der mit seinen Eltern vor Herodes nach Ägypten fliehen musste (vgl. Mt 2,13).

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Wir können - womöglich müssen wir es in unseren Tagen sogar - dieses vordergründig gefühlige Weihnachtslied so verstehen, dass es auch die Flüchtlinge und Heimatlosen sind, denen wir unsere Tore öffnen sollen. In ihnen begegnen wir Jesus selbst. Das Lied fährt fort: "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eu'r Herz zum Tempel zubereit'". Wir sind aufgerufen, auch unsere Herzen zu öffnen.

In der Realität unserer Welt müssen wir erkennen, dass die Tore Europas für die meisten Flüchtlinge keineswegs weit offen stehen. Das Schlagwort von der "Festung Europa" steht für eine Flüchtlings- und Migrationspolitik, deren Auswirkungen wir seit Jahren kennen und die seit einigen Wochen erneut mit bedrängender Intensität in unser Bewusstsein gerückt sind. Die Bilder vom Schiffbruch vor Lampedusa, bei dem fast 400 Menschen ihr Leben verloren, sind verstörend.

Wie dramatisch die Lebensumstände vieler Flüchtlinge sind, konnte ich selbst während einer kurzen Reise nach Jordanien erfahren, die ich gemeinsam mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, Anfang November unternommen habe. Die Begegnungen mit den Familien haben uns tief erschüttert. Die Flüchtlinge haben nicht selten massive Gewalterfahrungen gemacht - manche auch unter Folter. Oft sind sie traumatisiert bis hin zur Sprachlosigkeit. Kleine Kinder malen zerstörte Häuser und zeichnen die Leichen ihrer getöteten Verwandten. Sie wissen genau, wie ein Panzer aussieht und kennen die Details von Maschinengewehren. Der Kontrast zu den Bildern, die in unseren Kindergärten in Deutschland gemalt werden, könnte kaum größer sein.

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Bild: ©KNA

Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle (Hildesheim), spricht während einer Reise in ein Flüchtlingscamp nach Jordanien mit Kindern einer Schule am Zaun.

Migrationspolitik voller Widersprüche

Gerade die Begegnung mit Kindern zeigte uns jedoch auch Zeichen der Hoffnung: Inmitten der Krise sahen wir wenigstens für einige Momente lachende Gesichter und fröhliches Spielen. Menschen brauchen die Hoffnung auf eine gute Zukunft, um menschenwürdig leben zu können. Wir müssen uns nach Kräften bemühen, ihnen eine solche Hoffnung zu geben.

Die Staaten Europas betreiben eine Flüchtlings- und Migrationspolitik voller Widersprüche. Sie betonen ihren Willen, die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten zu achten und den internationalen Verpflichtungen (etwa aus der Genfer Flüchtlingskonvention) nachzukommen. Die Praxis an den europäischen Außengrenzen zu Land und auf See weist indes gravierende menschenrechtliche Probleme auf.

Als Beispiele seien nur das "Abdrängen" von Flüchtlingsbooten, eine bisher völlig unzureichende Seenot-Rettung oder die menschenunwürdigen (und allen europäischen Richtlinien widersprechenden) Zustände in den Erstaufnahme-Einrichtungen auf Malta und Lampedusa genannt. Den Preis für diese Widersprüchlichkeit zahlen diejenigen, die ihr Leben gewissenlosen und kriminellen Schleppern anvertrauen müssen, weil sie darin ihre einzige Chance sehen.

Man kann nicht alle Probleme sofort lösen. Aber die europäischen Staaten stehen in der Pflicht, die drängendsten Fragen auch kurzfristig anzugehen:

  • Die Nachbarstaaten Syriens haben die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge trotz der finanziellen Unterstützung durch die Weltgemeinschaft längst erreicht. Die Staaten Europas müssen auch selbst Flüchtlinge in weitaus größerer Zahl aufnehmen, als sie das bisher getan haben. Nur so kann eine gesellschaftliche und politische Destabilisierung der Region vermieden werden. Die bisher von Deutschland und anderen Staaten beschlossenen Aufnahmezahlen reichen bei weitem nicht aus.
  • Die Aufgabe der Seenot-Rettung muss ausdrücklich in das europäische Grenzsicherungssystem integriert werden. Nationale Gesetze, die dem entgegenstehen müssen umgehend geändert werden. Der Hinweis auf die Bekämpfung von Schlepperkriminalität darf nicht als Alibi für eigenes Unterlassen dienen. Die Äußerungen der Trauer über Bootsunglücke oder die Besuche von Politikern auf Lampedusa bleiben leere Gesten, wenn die Regierungen nicht einmal in Krisensituationen wie dem syrischen Bürgerkrieg sichere Fluchtwege eröffnen.
  • Die europäischen Regierungschefs müssen sich auf ein transparentes und faires Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen verständigen. Das so genannte "Dublin-System", das die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren durch den Staat festlegt, in dem der Antragssteller zuerst europäischen Boden betreten hat, bedarf einer gründlichen Überprüfung. Die geltenden europäischen Mindeststandards für Asylverfahren und die Versorgung von Flüchtlingen müssen eingehalten werden.
  • Bei allem Verständnis für die Sorge vor einer Überlastung der Sozialsysteme in Europa gilt: Die europäischen Staaten müssen den Zugang zu Asylverfahren und zu internationalem Schutz gewährleisten. Der weitaus größte Anteil der Flüchtlinge findet in der unmittelbaren Region Aufnahme, nur ein Bruchteil macht sich auf den Weg nach Europa. Unter ihnen ist der Anteil derjenigen, denen Schutz zugesprochen wird, so groß, dass von einem massenhaften Missbrauch des Asylrechts nicht die Rede sein kann. Hier müssen neue und kreative Wege beschritten werden, die lebensgefährliche Reiserouten verhindern helfen. Das Europäische Parlament hat beispielsweise kürzlich in einer bemerkenswerten fraktionsübergreifenden Erklärung noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen, Visa aus humanitären Gründen zu erteilen.
  • Neben diesen kurzfristigen Maßnahmen bedarf es auch wirklich glaubwürdiger Anstrengungen, das weltweite Gefälle bei Freiheit und Wohlstand zu verringern. Die Regierungen sind dringend aufgefordert, ihre Handels- und Wirtschaftspolitik so gestalten, dass alle eine gerechte Chance auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt haben. Das gilt sowohl für die reicheren Staaten als auch für die Eliten in den Entwicklungsländern, die ihrer Verantwortung für den eigenen Staat leider allzu häufig nicht angemessen nachkommen.

Von Norbert Trelle

Zur Person

Norbert Trelle ist Bischof von Hildesheim und Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz.