Wie frei ist die Religion?
Die Gemeinschaft, die sich selbst in der Tradition des Urchristentums sieht, wurde vor gut 40 Jahren in den Vereinigen Staaten gegründet. In Deutschland hat sie rund 100 Mitglieder, ein Großteil von ihnen wohnt auf dem Gutshof Klosterzimmern im bayerischen Landkreis Donau-Ries. Die "Zwölf Stämme" kamen vergangenen September in die Schlagzeilen, als bei einer Razzia im Morgengrauen Polizisten und Mitarbeiter des Jugendamts rund 40 Kinder mitnahmen. Seither kämpfen die Eltern darum, das entzogene Sorgerecht für ihre Kinder wiederzubekommen.
"Wir lieben unsere Kinder", sagt Stefan Pfeiffer, einer der betroffenen Väter. "Es war jahrhundertelang so, dass Kinder mal eins hinten drauf gekriegt haben, das hat niemandem geschadet." Die "Zwölf Stämme" berufen sich bei ihren Erziehungsmethoden auf die Bibel, etwa den Hebräerbrief 12,6: "Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er, er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat."
Doch es sind nicht nur die Prügelvorwürfe: Die Glaubensgemeinschaft lehnt es auch ab, dass ihre Kinder staatliche Schulen besuchen. Sexualkundeunterricht und Evolutionslehre sind nicht in ihrem Sinne. Deshalb unterrichteten die "Zwölf Stämme" ihre Kinder zwischen 2006 und 2013 zu Hause, genehmigt vom bayerischen Kultusministerium. Diese Erlaubnis entzog das Ministerium vergangenen Sommer, weil die Gemeinschaft offenbar keine qualifizierten Lehrer hatte.
Glaubensfreiheit contra staatlicher Erziehungsauftrag
Der Fall ist sicherlich extrem, doch auch andere Religionsgemeinschaften geraten hierzulande immer wieder in Konflikt mit dem Rechtsstaat. Insbesondere dann, wenn es um einen Widerstreit zwischen der Glaubensfreiheit einerseits und dem staatlichen Erziehungsauftrag andererseits geht. Konkret kommen die gleichrangigen Grundgesetzartikel 4 (Glaubensfreiheit), 6 (Elternwille) und 7 (Schulwesen) ins Spiel. "Im Normalfall haben die Eltern als Erstinterpret des Kindeswohls den Auftrag, ihre Kinder zu formen", erklärt Fabian Wittreck , Rechtswissenschaftler an der Universität Münster, der auch katholische Theologie studiert hat. "Der Staat kann erst eingreifen, wenn die Interpretation des Kindeswohls erkennbar fehlsam ist."
Dazu gab es in jüngerer Zeit eine Reihe von interessanten Fällen. So urteilte das Oberverwaltungsgericht Bremen im November 2013, dass Schüler nur im Ausnahmefall von Klassenfahrten befreit werden können. Mitglieder der freien Christengemeinde Bremerhaven wollten genau das erreichen. Die Begründung: Ihre Kinder würden während der Reise gemeinsame familiäre Bibellesungen und Gebete verpassen. Die Richter allerdings lehnten das Ansinnen ab. Sie fanden, dass durch die Klassenfahrt religiöse Verhaltensgebote nicht besonders gravierend beeinträchtigt würden. "Man muss das Urteil einordnen in eine deutliche Tendenz der Gerichte, gegenüber religiösen Ausnahmen in der öffentlichen Schule restriktiver zu sein", sagt Professor Wittreck.
Ähnlich entschied auch das Bundesverwaltungsgericht im September 2013 einen Fall, in dem Mitglieder der Zeugen Jehovas mit der Schule ihres Sohnes stritten. Dessen Klasse sah sich gemeinsam den Film "Krabat" nach einem Buch von Otfried Preußler an. Daran sollte der Junge nach dem Willen seiner Eltern nicht teilnehmen, denn in der Geschichte gehe es um Schwarze Magie. Die Bundesverwaltungsrichter jedoch lehnten eine Sonderbehandlung ab. Aufgabe der Schulen sei es, die nachwachsende Generation vorbehaltlos und möglichst umfassend mit Wissensständen der Gemeinschaft und ihrem geistig-kulturellen Erbe vertraut zu machen, so die Richter.
Juristische Feigenblätter statt grundsätzlicher Debatten
In diese Reihe fällt auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Fall muslimischer Schülerinnen, die seit einigen Monaten nicht mehr vom Schwimmunterricht befreit werden, sondern einen Burkini - einen Ganzkörperschwimmanzug - tragen sollen. "Es weht ein anderer Wind aus der Rechtsprechung", sagt Professor Wittreck mit Blick auf die Entscheidungen zur Glaubensfreiheit im schulischen Kontext.
Die Urteile hält er in der Sache für richtig, eine Sorge treibt den Münsteraner Rechtswissenschaftler jedoch um: "Dass wir Fragen, die wir in der Gesellschaft und im Parlament verhandeln sollten, durch die Richter entscheiden lassen." Denn die jeweiligen Fälle seien lediglich Feigenblätter für eine grundsätzliche Debatte angesichts zunehmender religiöser Pluralität: "Dahinter steckt die gesellschaftliche Frage, wie viel Raum wollen wir für Religion in der öffentlichen Schule haben, wollen wir Religionsfreiheit neu zuschneiden?" Fabian Wittreck vermutet dahinter nicht nur die Auseinandersetzung mit kleineren religiösen Gemeinschaften, sondern vor allem mit dem Islam: "Sehr viele, die Religion enger fassen wollen, sagen unausgesprochen, lasst uns das tun, damit wir die Zumutungen, die von islamischer Religionsausübung ausgehen, besser einfangen können."
Im Fall der "Zwölf Stämme" hingegen steht nach wie vor die Maximalforderung der Gemeinschaft im Raum: "Wir möchten natürlich, dass unsere Schule weitergeht", sagt Stefan Pfeiffer und hofft in einem ersten Schritt, dass sie das Sorgerecht für ihre Kinder zurück bekommen. Jurist Wittreck jedoch zeigt sich skeptisch: "Der deutsche Staat ist meines Erachtens bislang gut beraten gewesen, gegenüber heimischem Schulunterricht restriktiv vorzugehen." Er plädiert für die öffentliche Schule: "Kinder sollen dort mit dem ganzen Leben konfrontiert werden."
Von Burkhard Schäfers