Seelsorger am dunkelsten Ort der Welt
„Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“
Während ich diese Worte sage, hebe ich die Hostie so hoch, dass die Männer in der Zelle sie sehen können. Die "Kapelle" des Todestraktes des staatlichen Gefängnisses San Quentin in Kalifornien ist ein alter, fensterloser Duschraum, eingeschlossen in einen schweren Metallkäfig. Dort befinden sich sechs an den Boden angeschraubte, hölzerne Bänke, auf der die Mitglieder meiner Gemeinde sitzen. Ich trage ein Messgewand und eine Schutzweste und stehe in meiner eigenen Zelle, die ungefähr doppelt so groß ist wie eine alte Telefonzelle. Wie vorgeschrieben, habe ich meine Zelle mit einem Vorhängeschloss von innen gesichert. All das macht mich meines Wissens nach zum einzigen Jesuiten in meiner Gemeinschaft, der regelmäßig Messen in einer stichsicheren Weste zelebriert.
Über den Köpfen leuchtet ein grelles Licht, das die gewandelte Hostie anstrahlt, wenn ich sie hochhalte. Ich blicke an der Hostie vorbei auf die Männer in der Zelle. Sie sind still und konzentriert. An dieser Stelle der Messe stelle ich mir oft vor, wenn ich da vor den Männern stehe, getrennt durch ein Drahtgitter, wie das Licht Christi aus der Hostie strahlt und die Schatten vertreibt aus dem East Block, San Quentins Todestrakt für Männer.
Seit über 30 Jahren im Todestrakt
Zurzeit sind 721 Männer in Kalifornien zum Tode verurteilt, alle sitzen in San Quentin ein. Auch 20 Frauen sind zum Tode verurteilt, aber die sind in einem anderen Gefängnis. Ich arbeite als katholischer Geistlicher im größten Todestrakt der Vereinigten Staaten von Amerika, vielleicht sogar der ganzen westlichen Hemisphäre.
Manche dieser Männer sind seit über 30 Jahren hier im Todestrakt zu Hause, seit die Todesstrafe 1972 in Kalifornien durch eine Volksinitiative wieder eingeführt wurde. Ein Verfassungszusatz kippte Gerichtsurteile, die die Todesstrafe für verfassungswidrig befunden hatten. Seitdem wird wieder hingerichtet in Kalifornien.
In den vergangenen 30 Jahren sind im Todestrakt von San Quentin mehr Männer an Altersschwäche oder durch Suizid gestorben, als die 13, die der Staat hingerichtet hat. Ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind noch lange zu spüren, auch wenn die Leichen längst abtransportiert sind.
Der Todestrakt ist ein Gebäude mit vielen, vielen Schatten. Alle Besucher stellen fest, wie furchterregend und dunkel dieser Ort aussieht und sich anfühlt. Die fast vier Meter hohe schwarze Eingangstür am Gebäude, über der die Worte "Condemned Row", "Todestrakt", in Fraktur geschrieben stehen, macht es nicht leichter. Hinter dieser Tür spürt man die Beklemmung, fast greifbar hängt sie in der Luft.
Ein höhlenartiger, lebloser Raum
Wer den Todestrakt betritt, wundert sich als erstes darüber, wie groß er ist. So lang wie ein Straßenblock und fünf Etagen hoch erinnert er fast an ein Einkaufszentrum. Dort sind Fenster, die so dreckig sind, dass man fast nicht mehr durch sie hindurch schauen kann. Nur ein trübes Licht kommt durch. Freundlicher wird der höhlenartige, leblose Raum dadurch nicht.
Auf jeder Etage sind 50 Zellen. Wer also unten steht, sollte 250 Gefängniszellen sehen. Aber das funktioniert nicht: Die Zellen der oberen zwei Etagen sind von unten nicht im Blick. Eine grauschwarze Metallwand blockiert die Sicht.
Der Todestrakt riecht wie ein Umkleideraum, vermischt mit den Gerüchen von Kantinen und Latrinen. Wenn man an den Zellen vorbeigeht, riecht es hier nach Toilette, direkt nebenan nach frischgekochtem Reis und Bohnen. Vielleicht wundert man sich deswegen, dass es im Todestrakt nicht sehr laut ist. Das lauteste und anstrengendste Geräusch kommt aus der Gegensprechanlage im Bereitschaftszimmer: Wärter werden gerufen, um Häftlinge zu Besuchern und wieder zurückzubringen, zu ärztlichen Untersuchungen oder zur Dusche. Das Geräusch hallt von den Beton- und Metallwänden wider.
"Erholung" in Käfigen auf dem Hof
Eine Reihe Zellen zeigt Richtung Osten, in Richtung Bucht, aber die sieht man nicht, weil die Fenster so dreckig sind. Von den anderen 250 Zellen aus sieht man den Hof, ein aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammendes, mit Wellblech verkleidetes Areal zu dem ein Dutzend einzeln stehenden Käfige gehören, die wie Hundezwinger aussehen. In diese Käfige kommen die Männer aus der Isolationshaft, um sich jede Woche für ein paar Stunden zu "erholen".
„Ich kann es kaum glauben, dass ich an einem Ort arbeiten darf, der so erfüllt ist von der Kraft des Evangeliums.“
Die Männer haben diesen Status, weil sie als zu gefährlich gelten, als dass man sie mit anderen Häftlingen zusammentun könnte. Sie sind es, die hauptächlich verantwortlich sind für die regelmäßigen Messerstechereien und Übergriffe, die es nun einmal gibt unter Männern, die nichts zu verlieren haben und die in einer kleinen Welt aus belanglosem Tratsch und Beleidigungen leben.
Jeder Mann dort hat mir irgendwann erzählt, dass das Schlimmste am Leben im Todestrakt die Einsamkeit ist. Es hat mich überrascht zu hören, dass nicht alle diese Männer im Todestrakt gegen die Todesstrafe sind. Manche von ihnen begrüßen sie, manche warten darauf.
Alle Zellen sind gleich aufgebaut
Jeder Häftling hat eine eigene Zelle. Fensterlos, alle mit der gleichen Vorderseite aus schwerem Drahtgitter, einer verriegelten Tür und einer Essensluke, deren Blende die meiste Zeit mit einem Vorhängeschloss verriegelt ist. Jede Zelle misst anderthalb auf drei Meter. Die Zellen sind dunkel und eng. An der Stirnseite, ungefähr auf Augenhöhe, befindet sich ein Regal, darunter eine Stahltoilette mit einem Stahlwaschbecken, das oben in die Toilette eingebaut ist. Ein kleiner, runder Metallstuhl ist in eine Wand eingelassen, davor steht ein Bett. Die meisten der Männer haben die zwei, drei Zentimeter dicke Baumwollmatratze auf den Boden gelegt und schlafen dort. Das schmale Metallgestell des Bettes nutzen sie als Schreibtisch. Alle Männer haben kleine Fernseher, die immer an sind und ihre einzige Möglichkeit sind, etwas über die Außenwelt zu erfahren.
"Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird". Diese Worte wurden bei der letzten Mahlzeit eines Mannes gesprochen, der vom Staat zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Es ist seltsam, wie die Worte des Evangeliums im Todestrakt so anders klingen. Jesus, der hingerichtete Gefangene, spiegelt sich in den Augen der Männer, die ebenfalls verurteilt sind zu sterben.
Ich weiß, dass Jesus unschuldig war. Und ich weiß, was diese Männer getan haben, um hier in den Zellen als Todeskandidaten zu landen. Sie haben ihren Teil dazu beigetragen, oft furchtbar brutale Verbrechen; der Stoff aus dem Horror-Filme und Albträume gemacht sind. Mehr als 100 dieser Männer haben ihre Opfer gefoltert, bevor sie sie getötet haben. Fast 200 haben Kinder missbraucht und getötet.
Aber wenn ich die Hostie hochhebe, sehe ich keine abscheulichen Mörder vor mir. Ich sehe Menschen. Und wenn Er seinen Leib nicht auch für sie hingegeben hat – was ist unser Glauben dann wert? Die Tatsache, dass Seine Liebe bis hinab in die Hölle reicht, gibt meinem Leben seinen Sinn und Zweck. An dieser Stelle bin ich bei der Messe oft zu Tränen gerührt; es ist die Stelle, an der mir dämmert, was für ein Geschenk es ist, hier stehen zu dürfen und Zeuge der Gnade Christi im Sakrament zu sein, hier an diesem dunklen Ort.
Handschlag mit dem Serienmörder
Beim Friedensgruß geben wir uns durch unsere Käfige hindurch die Hand, der einzige physische Kontakt mit diesen Männern. Sie reichen ihre Hände durch einen 10 auf 30 cm großen Spalt im Gitter, um meine Hand zu schütteln. Ich bin oft überrascht, wie sie meine Hand ergreifen – es gibt so wenige menschliche Berührungen im Todestrakt. Auf gewisse Weise fühlt es sich für mich so an, als würden sie versuchen, sich an einem Stück anderer Realität festzuhalten, anders als die Kälte und Leblosigkeit, in der sie leben. Der Handschlag eines Serienmörders, eines Kinderschänders, eines Folteres – er fühlt sich genauso an wie jeder andere Handschlag.
Es gibt auch Momente mit – zugegebenermaßen schwarzem – Humor. Erst kürzlich hat einer meiner Serienmörder aus der Gemeinde zu mir gesagt: "Vater, tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde!" Kein Zweifel: Das ist bisher der beste Ratschlag, den ich von einem Serienmörder bekommen habe.
Es mag Ihnen beim Lesen seltsam vorkommen, dass ich diese Arbeit liebe. Ich liebe sie wirklich. Für mich ist das die beste Sendung, die man mir auftragen kann; ich würde sie nicht eintauschen wollen gegen eine Professur in Harvard: Wirklich! Wenn ich das Gefängnis verlasse oder wenn ich zur Arbeit über die Richmond-Brücke fahre, mit dieser atemberaubender Bucht zu meiner Linken, kann ich es kaum glauben, dass ich an einem Ort zu arbeiten darf, der so erfüllt ist von der Kraft des Evangeliums.
Eine Sache, die mich bei dieser Arbeit beschäftigt, beschreibt Martin Luther King Jr. in "Stride Toward Freedom" ("Schritte zur Freiheit"): "Wer das Böse widerspruchslos hinnimmt, unterstützt es in Wirklichkeit." Unterstütze ich das Böse, indem ich in einem System arbeite, das ich tatsächlich für teuflisch halte? Mache ich mich durch meine Arbeit im Todestrakt mit schuldig an den staatlichen Morden?
Ich glaube, dass es nicht so ist. Nach vielen Jahren Arbeit in Gefängnissen und in der Gefängnisseelsorge bin ich zu der Ansicht gelangt, dass die Gefängnisse selbst ein Fehler sind. Ich glaube, dass sie sowohl den Gefangenen und der Gesellschaft viel mehr schaden, als sie nutzen. Gefängnisse dienen nur dazu, Menschen zu entmündigen und sie fernab von der Gesellschaft wegzuschließen.
Die USA sind jetzt Weltmarktführer im Bereich Gefängnisse. Wir sperren einen größeren Teil unserer Bevölkerung ein als jedes andere Land der Erde. Und ja, das schließt auch China mit ein. Struktureller und institutioneller Rassismus stecken dahinter, dass – obwohl die Kriminalitätsrate von Schwarzen und Weißen gleich hoch ist – einer von fünf schwarzen Männern eine Haftstrafe absitzen muss, aber nur einer von 35 weißen Männern.
Wenig Nachwuchs bei Gefängnisseelsorgern
Daher: Nein, meine Arbeit im Gefängnis bedeutet nicht, dass ich Gefängnisse gutheiße. Es heißt, dass ich dort hingehe, wo die Kirche oft nicht ist. Wenn ich nicht hingehe, wer tut es dann, frage ich mich. Es gibt nicht viele Priester, die an die Tür des Aufsehers klopfen und darum bitten, als Seelsorger eingestellt zu werden. Ich wünschte, es gäbe mehr.
Außerdem: Was würde ich erreichen, wenn ich gegen Gefängnisse kämpfen würde, statt hineinzugehen, um Gottesdienst für die Gefangenen (und bis zu einem gewissen Grad auch für die Wärter) zu halten? Nur, dass ich selbst ausgeschlossen wäre. Und ich bekäme nie die Gelegenheit, das Allerheiligste Sakrament als Zeichen des Lichts und der Hoffnung in einer menschlichen Hölle hoch zu halten. Als Priester habe ich gelernt, meine Arbeit als eine zu sehen, die dem Bösen des Gefängnisses von innen heraus widersteht, dort, wo ich den lebendigen Christus finde.
Von P. George Williams, SJ
Übersetzt von Sophia Michalzik und Felix Neumann