"Schrittmacher bei Lohnerhöhungen"
Frage: Pater Hengsbach, ist es gerecht, dass derzeit Hunderttausende in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, weil Gewerkschaften, die nur wenige Arbeiter vertreten, Streiks organisieren?
Friedhelm Hengsbach: Es ist nur scheinbar ein Konflikt zwischen Kunden auf der einen Seite und Beschäftigten innerhalb eines Betriebs auf der anderen Seite. Die Bediensteten streiken nicht gegen die Kunden, sondern gegen einen Arbeitgeber, der ernsthafte Angebote machen könnte.
Man muss sehen, dass diese Spartengewerkschaften wie die GDL eine enorme Schlüsselstellung einnehmen: Sie können mit wenigen Leuten einen großen Teil der Bahn lahm legen. Andererseits sind sie Schrittmacher bei den Lohnerhöhungen und das ist auch für die, die nicht streiken, eine positive Sache. Insgesamt ziehen sie die Tariflöhne nach oben. Denn die Eisenbahngewerkschaft wird nachziehen und versuchen, dieses Niveau annähernd zu erreichen.
Frage: Bei der Bahn geht es derzeit nicht nur um Geld oder Arbeitszeit, sondern darum, ob die Gewerkschaft GDL auch andere Berufsgruppen als nur Lokführer vertreten kann. Dahinter steht das Anliegen einer Tarifeinheit: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Wie bewerten Sie das?
Hengsbach: Da wird eine flatternde Fahne hochgehalten, die im Grunde durchlöchert ist. Denn es ist ja schon lange nicht mehr überall so: Große Betriebe haben eine ausgelagerte Küche, in denen der Gaststättentarif gilt. Dass diese Spartengewerkschaften entstanden sind, hat Gründe, die man nicht einfach beseitigen kann. Beispielsweise sind sie alle im Bereich des früheren öffentlichen Dienstes entstanden, der sich die Privatisierung und Liberalisierung auf seine Fahnen geschrieben hat. Das Ergebnis ist die Pluralität der Koalitionsverhandlungspartner.
Innerhalb der DGB-Gewerkschaften haben sich diejenigen Mitglieder vernachlässigt gefühlt, die höhere Solidaritätsopfer erbringen müssen. Also hochqualifizierte Leute in den Betrieben des ehemals Öffentlichen Dienstes, Lokführer, Piloten und die Ärzte. Die ahmen jetzt mit ihren kleinen Gewerkschaften die Tarifführerschaft nach, die es früher auch schon gegeben hat: Heute sind Ärzte, Piloten und Lokführer die Schrittmacher der jeweiligen Tarifrunden. Und dass Lohnerhöhungen fällig sind nach langer Zeit, in der die Inflationsrate die Lohnsteigerungen aufgefressen hat, ist allgemein akzeptiert. Sogar die Bundesregierung und die Bundesbank haben die Gewerkschaften aufgefordert, sich mit höheren Lohnforderungen an der wirtschaftlichen Belebung zu beteiligen.
Frage: Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) möchte mit einem Gesetz zur Tarifeinheit die Macht von kleinen Gewerkschaften beschränken: In einem Betrieb soll die mitgliederstärkste Gewerkschaft den einen Tarif verhandeln. Wie stehen Sie dazu?
Hengsbach: Das geht verfassungsrechtlich gar nicht, weil das Koalitionsrecht – das Recht der Arbeitnehmer, Vereinigungen zu gründen – rechtlich stärker verankert ist als das Phantom der Tarifeinheit. Die Mitglieder der Spartengewerkschaften haben das gleiche Recht, sich zu organisieren und Einfluss zu nehmen auf die Tarifverträge. Faire Arbeitsbedingungen und entsprechend gerechte Löhne können in der Regel gar nicht anders als durch den Druck der Beschäftigten gegen den jeweiligen Arbeitgeber erreicht werden. Das ist die friedliche Form der Konfliktlösung. Aber jetzt fängt die Bahn AG an, sich stur zu stellen und hofft darauf, dass der Gesetzgeber die Tarifeinheit in ihrem Sinn herstellt. Das von Frau Nahles angekündigte Gesetz kann die kleinen Gewerkschaften nicht verdrängen. Die Ausformulierung des Gesetzes wird ein Drahtseilakt sein, denn das Koalitionsrecht auch der Spartengewerkschaften ist verfassungsfest. Es muss eine Lösung gefunden werden, die es den verschiedenen Gewerkschaften erlaubt, gemeinsam dem Tarifpartner, also den Arbeitgebern, gegenüberzustehen.
Das Interview führte Agathe Lukassek