Benachteiligtes Kruzifix?
Hält man die beiden einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nebeneinander - 1995 der Kruzifixbeschluss , 2015 der Kopftuchbeschluss -, kann man den Eindruck gewinnen, dass Kruzifix und Kopftuch in der Schule durch das höchste deutsche Gericht unberechtigterweise ungleich behandelt werden: Die Kruzifixe mussten abgenommen werden, das Kopftuch hingegen darf getragen werden.
Der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hans Michael Heinig, sieht eine Ungleichbehandlung außerdem darin, dass sich Schüler und Eltern gegen die Anbringung eines Kruzifixes wehren dürften, indem sie sich auf ihre sogenannte negative Religionsfreiheit berufen, ihnen dieses Argument gegen eine kopftuchtragende Lehrerin vom Bundesverfassungsgericht aber versagt werde. Blickt man indes näher hin, hält beides nicht stand: Alles andere wäre ein Skandal.
Was unterscheidet den Kruzifix- vom Kopftuchbeschluss?
Der Kruzifixbeschluss ist in vielerlei Hinsicht zu kritisieren. Ein Aspekt betrifft den ersten Leitsatz der Entscheidung, der in einer eigenen Pressemitteilung später sprachlich dahin präzisiert werden musste, "dass die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstößt. Nur darüber ist mit dem Beschluß vom 16. Mai 1995 entschieden worden". Im Fall des Kruzifixes handelte es sich also um eine staatliche Anordnung, im Fall des Kopftuchs nicht. Das Kruzifix war daher dem Staat zuzurechnen, das Kopftuch nicht. Juristisch gesprochen, "spielt" der Kruzifixbeschluss im Staatsorganisationsrecht, der Kopftuchbeschluss in den Grundrechten.
Was bedeutet das aber für die Frage der Ungleichbehandlung von Kreuz und Kopftuch? Das am wenigsten überzeugende Argument dürfte vielleicht sogar darin bestehen, dass ungleiche Sachverhalte ungleich behandelt werden müssen, obgleich dieses Argument rechtlich das bedeutsamste ist: Es gilt der Grundsatz, dass wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Und im einen Fall war das Zeichen staatlich angeordnet, im andern Fall nicht. Darin mag man eine Ungleichbehandlung sehen, doch muss man sich im Klaren darüber sein, dass der Staat, anders als seine Bürger, kein Bekenntnis haben darf, so dass die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Der Staat hat keine Religionsfreiheit, er darf sich daher zu keiner Religion bekennen. Aber besteht denn, jenseits der Frage der Anordnung durch den Staat und der Zuordnung zum Staat, eine Ungleichbehandlung?
Spinnen wir den Kruzifixbeschluss staatsorganisationsrechtlich weiter: Der Staat mag auf den Gedanken kommen, andere Kennzeichen einer Religion oder Weltanschauung darstellen zu wollen, und dieses anordnen. Auch das ist ihm nach dem Kruzifixbeschluss nicht erlaubt. Der Staat darf keine Lage schaffen, "in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist", und zwar ohne Unterschied der Religionen und auch der Weltanschauungen. Im Kruzifixbeschluss hat sich das Bundesverfassungsgericht außerdem zum ersten Mal inhaltlich mit dem Prinzip der Nichtidentifikation des Staates mit Religionen und Weltanschauungen befasst: Mit keiner darf er sich identifizieren. Eine Ungleichbehandlung von Kopftuch und Kruzifix besteht daher nicht: Beide darf der Staat nicht anordnen.
Spinnen wir nun den Kopftuchbeschluss grundrechtlich weiter: Weitere Lehrerinnen und Lehrer kommen auf den Gedanken, Kennzeichen ihrer Religionen oder Weltanschauungen tragen zu wollen. Auch das ist ihnen nach dem Kopftuchbeschluss erlaubt. Es ist Sache der "als 'bekenntnisoffen' bezeichneten Gemeinschaftsschule (...), den Schülerinnen und Schülern Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln, da Schule offen zu sein hat für christliche, für muslimische und andere religiöse und weltanschauliche Inhalte und Werte. Dieses Ideal muss im Interesse einer ausgleichenden, effektiven Grundrechtsverwirklichung in der Gemeinschaftsschule auch gelebt werden dürfen. Das gilt folgerichtig auch für das Tragen von Bekleidung, die mit Religionen in Verbindung gebracht wird, wie neben dem Kopftuch etwa der jüdischen Kippa oder dem Nonnen-Habit oder auch für Symbole wie das Kreuz, das sichtbar getragen wird". Von einer Ungleichbehandlung von Kruzifix und Kopftuch kann daher abermals nicht gesprochen werden: Beides darf getragen werden.
Negative Religionsfreiheit kein Argument?
Wie steht es nun mit der Behauptung, Schüler und Eltern dürften sich zwar unter Berufung auf ihre negative Religionsfreiheit gegen ein Kruzifix wehren, gegen ein Kopftuch hingegen nicht? Eine solche Lesart kann der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht entnommen werden, im Gegenteil: Zuzustimmen ist Hans Michael Heinig und anderen zwar darin, dass die Hauptargumentationslinie des aktuellen Kopftuchbeschlusses nicht der negativen Religionsfreiheit gilt (auch nicht der positiven, die erstaunlicherweise noch weniger behandelt wird), sondern der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates.
Doch ist an diesem Punkt schon darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht das zunächst nur an den Staat gerichtete und daher objektive Gebot der Neutralität seit der sogenannten Zeugen-Jehovas-Entscheidung im Jahr 2000 subjektiviert hat, das heißt, der Einzelne hat einen Anspruch gegen den Staat, dass dieser sich neutral verhält. Rechtsschutzerschwernisse werden daher nicht entstehen.
Aber auch inhaltlich stimmt die Aussage nicht. Im zweiten Leitsatz der Entscheidung heißt es klar: "Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen - der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags - erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm".
Der von den Kritikern in Bezug genommene Abschnitt, in dem es heißt, das Tragen eines Kopftuchs sei "nicht von vornherein" dazu angetan, die negative Religionsfreiheit "grundsätzlich" zu beeinträchtigen, findet sich zudem im Rahmen der Abwägung, in dem die widerstreitenden Positionen im Einzelfall gewichtet werden, und nicht im Obersatz, der den allgemeinen Maßstab der Entscheidung formuliert. Dort aber wird gerade von der negativen Religionsfreiheit gesprochen. Und was Juristen mit den Worten "nicht von vornherein" und "grundsätzlich" anzufangen in der Lage sind, muss nicht eigens erklärt werden. Ein "Abwägungsausfall" der negativen Religionsfreiheit kann daher nicht ausgemacht werden; wäre das der Fall, entspräche es selbstverständlich nicht dem juristischen Handwerk.
Ausblick
Von einer unberechtigten Ungleichbehandlung von Kruzifix und Kopftuch kann daher keine Rede sein. Eine interessante Schlussfrage ist, ob das Bundesverfassungsgericht die Kruzifix-Entscheidung angesichts seines Konzepts der offenen und übergreifenden Neutralität des Staates heute erneut so treffen würde oder ob es Kennzeichen von Religionen und Weltanschauungen auch auf staatliche Anordnung hin - dann aber für alle gleich - erlauben würde. Die Frage ist gewiss spekulativ; das macht sie aber so interessant.
Von Georg Neureither