Generelles Streikverbot bei Kirchen gekippt

Veröffentlicht am 21.11.2012 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Justiz

Bonn ‐ Das lange erwartete Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt über die Zulässigkeit von Streiks in kirchlichen Einrichtungen ist gefallen: Grundsätzlich dürfen Mitarbeiter der evangelischen und katholischen Kirchen künftig streiken. Voraussetzung sei, dass der kirchliche Sonderweg mit dem Ziel eines einvernehmlichen Interessenausgleichs nicht zu eindeutigen Ergebnissen geführt habe, urteilte das Gericht am Dienstag in Erfurt.

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Die ersten Reaktionen kirchlicher Vertreter fielen positiv aus. Der Bundesvorsitzende der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), Georg Hupfauer, begrüßte gegenüber katholisch.de, dass die Beschäftigten in Zukunft grundsätzlich auch die Möglichkeit zu einem Streik haben: "Unter bestimmten Bedingungen, bei denen eine Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht möglich ist, muss Streik erlaubt sein. Das wird auch in der katholischen Soziallehre gefordert", sagte er. Dies könne zum Beispiel der Fall sein, wenn bei "kirchlichen Arbeitgebern wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen die Arbeitsbedingungen oder die Löhne nicht stimmen".

Wenn der den Kirchen gewährte Sonderweg weiterhin gerechtfertigt sein solle, dann müsse sich die Kirche gegenüber ihren Arbeitnehmern auch entsprechend verhalten - so dass Streiks möglicherweise gar nicht erst nötig würden, betonte Hupfauer.

Bischofskonferenz sieht kirchlichen Weg bestätigt

Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Hans Langendörfer, sieht das kirchliche System, in dem paritätisch zusammengesetzte Kommissionen gemeinsam einen Tarif aushandeln, durch die Entscheidung bestätigt: "Das Urteil stärkt das Selbstbestimmungsrecht der Kirche", erklärte er. Der sogenannte "Dritte Weg" habe sich in den vergangenen 30 Jahren als gerechtes Verfahren bewährt und garantiere gute Ergebnisse.

Ähnlich sieht auch Caritas-Präsident Peter Neher die Entscheidung: Er sei überzeugt, dass der Dritte Weg " auch in Zukunft zu guten Ergebnissen für die Mitarbeitenden sowie für die Träger der Einrichtungen führt".

Auf der Tagesordnung des Gerichts standen zwei Verfahren in evangelischen Einrichtungen (1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11). In beiden Fällen hatten sich die Landesarbeitsgerichte Hamm (8 Sa 788/10) und Hamburg (2 Sa 83/10) im vergangenen Jahr gegen ein generelles Streikverbot ausgesprochen. Dagegen erhoben die Träger der Einrichtungen Einspruch.

1,2 Millionen Arbeitnehmer betroffen

Hintergrund ist das grundgesetzlich geschützte Recht der Kirchen, unter anderem ihr Arbeitsrecht selbstständig zu regeln. Ihren "Dritten Weg" begründen sie damit, dass sich ihre Einrichtungen als Dienstgemeinschaft verstehen. Danach waren Streik und Aussperrung bisher ausgeschlossen. Stattdessen suchen Dienstgeber und Dienstnehmer in paritätisch besetzten Kommissionen nach einem Interessenausgleich.

Verdi-Chef Frank Bsirske hatte vor dem Urteil die Lage der Arbeitnehmer in Kirchen als vordemokratisch kritisiert. Die Kirchen nähmen in Anspruch, "zur Wahrung ihrer Interessen vorbehaltlos gewährte Grundrechte verdrängen zu können", sagte er gegenüber der "Zeit"-Beilage "Christ __amp__ Welt". Gewerkschaften wie ver.di und "Marburger Bund" fordern seit Langem ein Streikrecht auch in kirchlichen Einrichtungen.

Das jetzt gesprochene Grundsatzurteil betrifft bundesweit über 1,2 Millionen Arbeitnehmer vor allem in Einrichtungen von Caritas und Diakonie. Kirchen wie Gewerkschaften hatten bereits im Vorfeld angekündigt, im Falle einer gerichtlichen Niederlage vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen. Möglich ist auch, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damit befasst.

Artikel 140 des Grungesetzes gesteht den Kirchen die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu. Auch das Streikrecht ist jedoch im Grungesetz verankert. (gho mit Material von KNA).

Infokasten: Kirchliches Arbeitsrecht

Die arbeitsrechtlichen Bedingungen für die rund 1,2 Millionen Mitarbeiter der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände in Deutschland unterscheiden sich erheblich von den für andere Arbeitnehmer geltenden Bestimmungen. Grundlage dafür ist das Grundgesetz, das den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein weitgehendes Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht einräumt. Für Kirchenmitarbeiter gilt der sogenannte Dritte Weg des Arbeitsrechts: Danach bilden Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Dienstgemeinschaft, in der alle einen gleichen Anteil am religiösen Auftrag der Kirche haben. Die Arbeitsbedingungen und Tarife werden in arbeitsrechtlichen Kommissionen festgelegt, die paritätisch mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer besetzt sind. Das Recht auf Streik und die Mitsprache von Gewerkschaften sind daher ebenso ausgeschlossen wie Aussperrungen. Zudem wird von Kirchenmitarbeitern eine Übereinstimmung mit den kirchlichen Glaubens- und Moralvorstellungen erwartet. Ein Verstoß gegen diese Loyalitätspflichten zieht arbeitsrechtliche Konsequenzen - bis hin zur Kündigung - nach sich. Der Dritte Weg unterscheidet sich damit wesentlich vom "Ersten Weg", bei dem die Arbeitsbedingungen einseitig vom Arbeitgeber diktiert werden. Weithin üblich in Deutschland ist der "Zweite Weg", bei dem sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Interessenvertreter gegenüberstehen und Tarifverträge aushandeln. Dazu gehören auch Streiks und Aussperrungen. Allerdings gibt es beim Streikrecht auch in Bereichen außerhalb der Kirchen Ausnahmen: Auch Beamte dürfen in Deutschland nicht streiken. (KNA)