Wider das Rachebedürfnis
Und doch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Denn Robert Köhler, selbst ehemaliger Schüler und Gründer eines Opfervereins, lobt die Aufarbeitung des Missbrauch-Skandals und beschreibt sie sogar als vorbildhaft: "Das Kloster Ettal ist einen sehr mutigen und konsequenten Weg gegangen – darauf kann man aufbauen, wenn es darum geht, das so etwas nie wieder vorkommt." Was nicht heißt, dass der Opferverein nicht für die Aufarbeitung kämpfen musste: Denn erst auf sein Drängen hatte die Abtei zugestimmt, die Missbrauchsfälle im Kloster wissenschaftlich zu untersuchen. Dazu interviewten die Forscher ehemalige Internatsschüler und Ordensmänner. Das Kloster stellte Unterlagen zur Verfügung, darunter einen Bericht des früheren Bundesverfassungsrichters Hans-Joachim Jentsch.
Gründe und Strukturen des Missbrauchs
Es sei das Ziel der Studie gewesen, die Gründe und die Strukturen des Missbrauchs zu ergründen und offenzulegen, erklärte Florian Straus, Leiter des IPP. "Dabei ging es auch um die unterschiedliche Wahrnehmung: Es kann sehr wohl sein, dass es auf der einen Seite körperliche Züchtigung gab, und viele auf der anderen Seite von der glücklichsten Zeit in ihrem Leben sprachen", so Straus. "Das Internat war sehr auf Sport ausgelegt, man konnte nach Herzenslust Fußballspielen und viele hatten sofort Anschluss in eine sehr enge und herzliche Gemeinschaft." Wer nicht das Glück hatte, dazuzugehören, wer nicht in das Raster passte, wurde drangsaliert: "Andere hatten Heimweh oder konnten aus anderen Gründen nicht die Leistung bringen, die von ihnen erwartet wurde. Diese wurden dann von den Patres in eine bestimmte Ecke gedrängt – und misshandelt, teilweise auch sexuell."
Der Studie zufolge gab es "klare Hinweise auf sexuelle Missbrauchshandlungen einzelner Patres". Straus spricht von mindestens 15 Personen, die des Missbrauchs beschuldigt werden. Das Kloster sei "institutionell unfähig" gewesen, dieses Fehlverhalten abzustellen. Gründe dafür seien ein elitäres Selbstverständnis und Mängel in der internen Kommunikation gewesen.
Gelungene Mediation
Eine weitere Ursache für die Missbrauchsfälle in Ettal sehen die Studienautoren darin, dass "in der katholischen Welt eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Sexualität durch vielfältige Tabus erschwert" werde. In der Sozialisation der Mönche habe das Thema keine Rolle gespielt, "allenfalls wurde vor der Sexualität gewarnt" oder sie wurde "der angstbestimmten Selbstkontrolle überantwortet". Wo diese Kontrolle nicht funktionierte, "bot das Internat genügend Möglichkeiten, sich an Schülern zu vergehen".
Opfervertreter Roland Köhler sieht den Grund für die gelungene Aufarbeitung in der erfolgreichen Mediation: "Zuerst muss festgestellt werden, was in welchem Umfang passiert ist. Dann gilt es, sowohl die Taten als auch die Opfer anzuerkennen. Danach geht es um etwaige Entschädigungen. Spätestens da bleiben viele Konflikte hängen." Er verweist auf Schulen, an denen es ähnliche Vorfälle gab. "Wenn Täterorganisationen und Opfer aufeinanderprallen, dann geht das ohne Mediation nicht." Es sei völlig unrealistisch, auf seinen Maximalforderungen zu beharren. Dabei gelte es auch zu akzeptieren, dass nicht jedes Rachebedürfnis befriedigt werden könne: "Man muss sich realistische Ziele setzen."
700.000 Euro Entschädigung
Die Missbrauchsfälle in Ettal wurden vor drei Jahren im Zusammenhang mit vielen anderen Veröffentlichungen bekannt. Externe Juristen sammelten Opferberichte, in schwierigen Gesprächen gewann der Opferverein das Kloster für einen gemeinsamen Weg der Aufarbeitung.
Bisher hat die Abtei 700.000 Euro Entschädigungszahlungen an 70 Betroffene geleistet. Ein anerkanntes Opfer beging im vergangenen Herbst Suizid. Die Übergriffe ereigneten sich bis in die jüngere Vergangenheit, mit einem Schwerpunkt vor 1990. Mehrere der Täter leben noch. (mit Material von KNA)
Von Michael Richmann