Narben, die niemals heilen
Stefano Ferrari legt mit seinen gut recherchierten und genau beobachtenden Dokumentationen Finger in offene Wunden. 2011 schockierte er seine Landsleute mit dem Film "Wo sind die Nomaden, wenn sie nicht da sind?" Darin konfrontierte er die Zuschauer mit der latenten Fremdenfeindlichkeit der Bewohner des idyllischen Tessin: Jahrzehntelang siedelte eine Gruppe Roma am Fluss eines kleinen Ortes. Nach einem fremdenfeindlichen Anschlag waren sie plötzlich verschwunden.
Nicht verurteilen, sondern verstehen
Die Gegenüberstellung der Gefühle von Opfern und Tätern ist der Teil von "Ein Teil von Dir stirbt immer", der unter die Haut geht. Ferrari und seine deutsche Kollegin Stephanie Rauer haben ehemaligen Opfern und ihren Peinigern Geständnisse entlockt, die einen tiefen Einblick in ihr Seelenleben geben. So gesteht einer der Täter heute: "Als ich zum ersten Mal ein Kind missbraucht habe, war mir bewusst, dass das meinen moralischen Tod bedeutet."
Ferrari will die Täter nicht verurteilen. Er will verstehen, was in den Männern vorgeht. Auf der Suche nach Betroffenen ging er einen ungewöhnlichen Weg. Auf einschlägigen Internetportalen suchte er mit provokanten Thesen Pädophile, die ihre Neigung ausleben. Oder die von ihr wissen, sie aber unterdrücken. In München treffen Rauer und er so auf "Jan Meier", der sich freimütig zu seiner Vorliebe zum Sex mit Minderjährigen bekennt.
Mit Organisationen, die sich offen für die Legalisierung der Beziehungen von Männern zu Kindern aussprechen, versucht Stefano Ferrari auf seiner Reise ins Gespräch zu kommen. Die US-amerikanische NAMBLA will das Verbot von engen Beziehungen von Männern und Jungen, die beide Seiten freiwillig eingehen, aufheben. Ein vereinbartes Interview wird kurzfristig abgesagt. Vor die Kamera hingegen geht der Vorsitzende der niederländischen Vereinigung MARTIJN, Marthijn Uittenbogaard, dessen Wohnungsfenster auf einen Kindergarten hinausgehen. Seine Institution verfolgt ähnliche Ziele wie NAMBLA und wurde 2012 nach heftigen Protesten verboten.
Journalismus in Höchstform
Klaus Michael Beier, seit 1996 Professor für Sexualwissenschaft/Sexualmedizin an der Berliner Charite, hat einen therapeutischen Ansatz zur Behandlung Pädophiler entwickelt. Oberste Prämisse ist für ihn, dass sich die Männer in die Situation des Kindes hineinversetzen - sie sollen begreifen, dass ein Teil der Kinderseele stirbt und die Narben niemals verheilen werden.
Die Opfer und ihr Schutz haben für Filmemacher Ferrari Priorität. Dem Boulevard mit seinen Schlagzeilen voller Vorurteile und Verteufelungen der Täter setzt er mit seiner unaufgeregten Erzählweise und der Fülle von Fakten die Aufklärung über die Ursachen der Pädophilie entgegen. Das ist klassischer Journalismus in Höchstform, informativ und spannend aufbereitet. Schade, dass die viel gescholtenen öffentlich-rechtlichen Sender solch Juwel in einem Spartenkanal verstecken.
Von Katharina Dockhorn (KNA)