Schuld und Sühne
Von "Schuld und Sühne" zu sprechen, könne einen heute verdächtig machen, stellte Konrad Paul Lissmann gleich zu Beginn des 18. Philosophicums in Lech am Arlberg fest. Der österreichische Philosoph ist Leiter der Veranstaltung. Zwar zitiere man mit dieser Formel Fjodor Dostojewskijs berühmten Roman, aber man werde diesen heute nicht mehr unter jenem Titel finden. "Verbrechen und Strafe" ist das Buch jetzt betitelt und – unabhängig von der literarischen Frage, ob der neue Titel die russische Vorlage besser trifft oder nicht – kennzeichne die begriffliche Verschiebung die veränderte Einstellung zu dem damit verbundenen Problem. Verbrechen und Strafe verwiesen auf die Normen und Gesetze einer Gesellschaft; ihre Übertretung werde sanktioniert. Was in einer Gesellschaft als kriminell gelte und wie darauf reagiert werden soll, lasse sich aber jederzeit modifizieren, so Lissmann.
Bei Schuld und Sühne handele es sich aber um mehr als übertretene Gesetze und damit verbundenen Sanktionen. Schuld könne vieles bedeuten: Was man als Urheber selbst verschuldet hat oder was man einem anderen schuldet und zurückzahlen muss, erklärte er. Schuld meine die Pflicht, das moralische Sollen – ob mit Geld oder etwas anderem – zu begleichen. Man könne aber auch an einem anderen Menschen schuldig werden, indem man beispielsweise seine Lebenschancen mindere, so der Philosoph.
"Warum hast du das getan?"
"Die Frage nach der Schuld versucht zu klären, inwieweit der Mensch als Urheber seiner Handlungen vor sich selbst und vor anderen einstehen muss", sagte Lissmann. Sühne hingegen meine mehr als die Abgeltung einer Schuld. Sie stehe nicht nur in einer formalen Beziehung zu einer Tat, sondern in einer inhaltlichen. "Wie lässt sich auf die Frage 'Warum hast du das getan?' noch antworten? Wie kann, nach einer Tat, die als falsch und verwerflich erkannt wurde, noch reagiert werden?", fragte Lissmann.
Schuld und Sühne fragten beide nach Verantwortung, betonte er. Doch es stelle sich immer die Frage, wer Verantwortung trage und wer Verantwortung einfordere. "Der moderne Mensch, vor allem der aufgeklärte und selbstkritische Europäer, scheint gerne Verantwortung zu übernehmen." Der Mensch fühle sich für vieles verantwortlich, darunter seien sowohl Themen wie das Weltklima oder der Krieg im Irak zu finden als auch der Zölibat in der katholischen Kirche. "Für alles nimmt er die Schuld auf sich", erläuterte Lissmann. "Wenn nicht als Person, so doch als Teilhaber an einer Kultur, die sich angeblich schuldig gemacht hat und von der er sich, indem er deren Schuld benennt, auch schon wieder distanziert."
Reue schafft neue Handlungsmöglichkeiten
Wer andere jedoch von ihrer Verantwortung entlaste, spreche diesen allerdings ab, für sich selbst Verantwortung übernehmen zu können. So mache sich "jeder verdächtig", der meine, dass "aggressive Jugendliche, lernunwillige Schüler oder schlecht integrierte Muslime" selbst für ihre jeweilige Lage verantwortlich seien. "Die Verantwortung liegt immer woanders, nie bei den Akteuren", so Lissmann.
Im weiteren Verlauf seines Vortrags erinnerte der Philosoph daran, dass eine grundlegende Voraussetzung für die Zurechnung von Verantwortung die Freiheit sei. Urheber des eigenen Handelns und deshalb verantwortlich zu sein, meine nicht nur in einem juristischen Sinn "schuldfähig" zu sein. "Es bedeutet auch, sich selbst zu diesem Handeln im Nachhinein verhalten zu können und sich mit der Frage, wie gut oder schlecht dieses handeln war, auseinanderzusetzen."
Im Zusammenhang mit dem Thema "Schuld und Sühne" kam Lissmann auch auf die Reue zu sprechen: Reue sei kein leerer Genuss, sondern eröffne die Möglichkeit zu unterschiedlichen Formen der Sühne und gebe die Chance, es "in Zukunft anders und besser zu machen". Reue schaffe – im Gegensatz zur unbereuten Schuld – neue Handlungsmöglichkeiten.
Von Manfred Becker-Huberti