Die Bibel - ein Reiseführer?
Ein Stück Gebrauchsliteratur, könnte man sagen. Gleichzeitig weckt das Stöbern im Reiseführer aber auch schon lange vor der eigentlichen Abreise die Vorfreude auf die "schönsten Wochen im Jahr", lässt uns das Blau des Meeres schon ahnen, den Schatz der Sehenswürdigkeiten schon ermessen, die Berggipfel schon einmal im Geiste erklimmen.
In vielen Hotelzimmern liegt dann ein ganz anderes Buch auf dem Nachttisch: die Bibel. Auch sie ist ein Buch, in dem es – wenn man einmal genauer hinschaut – erstaunlich viel ums Reisen und Unterwegssein geht. Zahlreiche große Reisende finden wir unter ihren Protagonisten: Sara und Abraham, Moses und das gesamte Volk Israel, Ruth, Jona, Jesus, der Apostel Paulus… Man könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Manchmal gewinnt man sogar den Eindruck, als agiere Gott auch wie ein Reiseführer – wenn er zum Beispiel den Israeliten mit einer Feuer- und Wolkensäule den Weg durch die Wüste Richtung "gelobtes Land" weist. Doch hat die Heilige Schrift der Christen selbst etwas mit einem "Reiseführer" gemein?
Eine gewaltige Bibliothek von dreiundsiebzig Schriften
Auf den ersten Blick scheint der Vergleich abwegig, handelt es sich doch bei dem, was wir "Bibel" nennen, eigentlich um eine gewaltige Bibliothek von dreiundsiebzig Schriften ganz verschiedener Art und – so mag man meinen – fernab von heutiger Tagesaktualität. Ihre Reisenden sind in der Regel keine "Touristen", ihre Texte oft sperrig und keineswegs immer aus sich selbst heraus verständlich. Da benötigt man schon des Öfteren einen kundigen Dolmetscher. "Verstehst du auch, was du liest?", so fragt schon der urchristliche Missionar Philippus im achten Kapitel der Apostelgeschichte den Kämmerer der äthiopischen Königin, der auf der Rückreise von Jerusalem ratlos vor der Schriftrolle des Propheten Jesaja sitzt, um ihm dann zu einem vertieften Verständnis zu verhelfen.
Anders als die Mehrzahl der Reiseführer beschränken sich die biblischen Texte jedoch nicht auf die "erholungstauglichen" Sonnenseiten des Lebens. Ihre Stärke liegt genau darin, dass sie die Grauzonen und Schattenseiten menschlichen Daseins nicht verschweigen – dass alles menschliche Suchen und Fragen, Gelingen und Scheitern Platz haben darf in der einen Geschichte Gottes mit den Menschen.
Führung und Rat auf der Lebensreise
Vielleicht gerade deswegen haben Menschen aller Zeiten in den Worten der Bibel Führung und Rat gesucht auf ihrer Lebensreise. Wie ein Reiseführer vermag sie vielen bis heute Wegbegleiterin zu sein, Orientierung zu geben auf den Reisen ins Unbekannte, zu denen uns das Leben herausfordert. Und noch mehr als jeder Reiseführer ist unsere Bibel ein Stück "Sehnsuchtsliteratur", die über sich hinaus verweist. Ihre Lektüre kann die Reise selbst nicht ersetzen – aber sie kann Mut machen, dass wir uns auf den Weg machen.
Reiseführern darf man übrigens, so finde ich, die Turbulenzen und Beschwerlichkeiten der Reise ruhig ansehen. Sie dürfen "verlebt" aussehen – inklusive Eselsohren und Kaffeeflecken. Zu Hause im Regal nützen sie niemandem. Vielleicht sollten wir auch unsere Bibel, selbst die Prachtexemplare mit Goldschnitt, aus dem verstaubten Ehrenplatz auf dem Bücherbord befreien und zu einem Buch machen, das mit uns durch "Wind und Wetter" geht. Das Potential dazu hat sie allemal.
Von Rita Müller-Fieberg