50 Mal Barmherzigkeit
In den Psalmen:
In den Psalmen wird Gott meistens zugleich als gnädig und barmherzig beschrieben. In sechs Psalmen wird ihm dieses Attribut zugeschrieben. Der Satz "Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade" (Ps 145,8) kommt fast wortgleich im Ps 86,15 und Ps 103,8 vor; dort ist der barmherzige Gott "reich an Huld und Treue", bzw. an Güte.
„Den Redlichen erstrahlt im Finstern ein Licht: der Gnädige, Barmherzige und Gerechte. Wohl dem Mann, der gütig und zum Helfen bereit ist, der das Seine ordnet, wie es recht ist.“
Im Buch Jesus Sirach:
Im Buch Jesus Sirach, das zur jüdischen Weisheitsliteratur gehört, findet sich im 5. Kapitel ein wichtiger Gedankengang: "Sag nicht: Ich habe gesündigt, doch was ist mir geschehen? Denn der Herr hat viel Geduld. Verlass dich nicht auf die Vergebung, füge nicht Sünde an Sünde, indem du sagst: Seine Barmherzigkeit ist groß, er wird mir viele Sünden verzeihen." Der Mensch wird aufgefordert, sich zu bekehren, denn "auf den Frevlern ruht sein Grimm" (Sir 5,6). In der Theologiegeschichte taucht die Spannung zwischen Gottes Barmherzigkeit und seiner Gerechtigkeit auf. Eine Bestrafung der Bösen und "ausgleichende Gerechtigkeit" wird gefordert. Aber ist das allein durch diese Bibelstelle gerechtfertigt? Nein, heißt es im Neuen Theologischen Wörterbuch von Herbert Vorgrimler. "Der mögliche Zorn Gottes ist besiegt durch seine Barmherzigkeit und seine grenzenlose Geduld". Diese Sicht bezeuge auch das Neue Testament, schreibt der Theologe. Die theologische Meinung, die der Gottesoffenbarung entspreche, setze der Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen und weise darauf hin, "dass Gott Möglichkeiten besitzt, seine Gerechtigkeit in Übereinstimmung mit seiner Barmherzigkeit zu bringen", so Vorgrimler (1929-2014).
Im Buch Tobit:
Die lehrhafte Erzählung über den frommen Israeliten Tobit und die Reise seines Sohnes Tobias kann man als das biblische Buch der Barmherzigkeit bezeichnen: 15 Mal kommt das Wort darin vor. Tobit lebte in Assyrien und versuchte dort, sich an die Gebote des Gottes Israels zu befolgen. Dazu gehörte barmherziges Handeln: Er gab Hungrigen sein Brot, Nackten seine Kleider und bestattete heimlich die Israeliten, die der König von Ninive hinrichten ließ. Im Alter ist er arm und erblindet durch ein Missgeschick. Als ihn dann noch seine Frau verhöhnt, schickt Gott Tobit und seinem Sohn den Erzengel Rafael zu Hilfe. Dieser begleitet Tobias und gibt ihm ein Medikament, mit dem er den Vater von der Blindheit heilen kann. Am Ende seines langen Lebens erhebt Tobit ein Lobpreis auf Gott und gibt seinem Sohn letzte Ermahnungen zu einem gottgefälligen Leben: "Befolge das Gesetz und die Gebote; sei immer barmherzig und gerecht, dann wird es dir gut gehen." (Tob 14,9)
In den Evangelien:
Der göttlichen Forderung nach der Barmherzigkeit der Menschen wird auch im Neuen Testament breiter Raum eingeräumt, besonders in Weisungen und Gleichnissen in den Evangelien von Matthäus und Lukas. Beispiele sind etwa das Gleichnis vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme sowie das Gleichnis vom verlorenen Sohn und seinem barmherzigen Vater. Die Barmherzigkeit erweist sich nicht in Gefühlen, sondern in praktischer Hilfe und effektivem Verzeihen. "Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten," sagt Jesus in Mt 9,13 und zitiert damit eine Aussage Gottes aus dem Alten Testament (Hos 6,6). "Barmherzig wie der Vater" (angelehnt aus Lk 6,36) ist der Leitspruch für das Heilige Jahr. Zuvor fordert Jesus auf, Feinde zu lieben und Gutes zu tun, auch wenn man nichts davon erhoffen könne. Wie Gottvater solle man nicht urteilen oder verdammen, sondern vergeben und Liebe und Verzeihung schenken.
„Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“
Der barmherzige Samariter:
Eine der bekanntesten biblischen Erzählungen und ein gutes Vorbild ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium (10, 30-37). Der Fremde kümmerte sich als einziger um einen Mann, der von Räubern schwer verletzt wurde und am Wegesrand lag. Das Überraschende: Der Samariter gehört einer anderen Religion als der Verletzte an. Zuvor sahen ein Priester und ein Levit den Mann, gingen aber weiter. Jesus erklärt, dass der Samariter dem Überfallenen der Nächste sei und man ebenso handeln solle. Der barmherzige Samariter soll klar machen, dass ein Glaubender zu dem gesandt ist, von dem er meint, nichts mit ihm zu tun zu haben.
Die Erzählung zeigt auch, wie Nächstenliebe funktionieren kann, ohne über der Last der Verantwortung zusammenzubrechen: Der Samariter brachte den Mann, nachdem er Erste Hilfe geleistet hatte, zur weiteren Versorgung und Pflege in eine Herberge. Dafür bezahlte er den Wirt und ging am nächsten Tag weiter seines Weges. Er sagte sich nicht, dass er alles alleine stemmen muss, aber er stahl sich auch nicht aus der Verantwortung.
Sieben Werke der Barmherzigkeit:
Aus der Endzeitrede im Matthäusevangelium (Mt 25,34-46) stammen sechs Werke der Barmherzigkeit. Die Totenbestattung als das siebte Werk wurde mit Bezug auf das Buch Tobit hinzugefügt:
- Hungrige speisen
- Durstige tränken
- Fremde beherbergen
- Nackte kleiden
- Kranke pflegen
- Gefangene besuchen
- Tote bestatten
Um der Bedeutung der Barmherzigkeit in der Bibel gerecht zu werden, reicht es aber nicht, nur auch das Wort selbst zu schauen. So wird etwa im Alten Testament die Barmherzigkeit Gottes stets auch mit anderen Begriffen ausgesagt: gütig sein, mütterlich empfinden, Mitleid haben und sich herabneigen sind Beispiele dafür, wie die Gesinnung Gottes und seine konkreten Hilfen umschrieben werden. In den Paulusbriefen wird zudem betont, dass der Mensch auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist und durch sie gerettet wird. Das Bewusstsein dafür tritt laut dem Theologen Vorgrimler in der Gegenwart immer mehr zurück: Die Menschen hätten ein Unschuldsbewusstsein und sehen sich immer weniger als Sünder, die der Vergebung Gottes bedürfen. Zudem sei die menschliche Barmherzigkeit durch zunehmende Unempfindlichkeit gegenüber Leidenssituationen und durch "Alibi-Hinweise" auf Leistungen der gesetzlichen Sozialhilfe bedroht. Umso wichtiger ist es, dass das "Jubiläum der Barmherzigkeit" an das Thema erinnert.