125. Geburtstag von Oswald von Nell-Breuning: Katholische Soziallehre lebt

Aktienrecht und Evangelium

Veröffentlicht am 08.03.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
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Gesellschaft

München ‐ Ein Priester berät SPD, Wirtschaftsministerium und Gewerkschaftsbund. Mit Aktienrecht kennt er sich ebenso gut aus wie mit dem Evangelium. Oswald von Nell-Breuning war der Mitbegründer der katholischen Soziallehre und ist bis heute hochaktuell.

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"Diese Wirtschaft tötet", heißt es bei Papst Franziskus. "Unbestreitbar ist, dass wir auf Kosten der unterentwickelten Völker leben" konstatierte schon vor vielen Jahren Oswald von Nell-Breuning, der 1991 im Alter von 101 Jahren starb. Der Jesuit gilt als Nestor der katholischen Soziallehre. Und die, meinen etliche mit Blick auf Finanzkrise und entfesselten Kapitalismus, sei leider etwas in Vergessenheit geraten. Sollte das stimmen, lag es wohl kaum an Nell-Breuning. Der hinterließ seine Spuren in Wirtschaft und Gesellschaft über mehrere Jahrzehnte.

"Hineingeraten ist er in diese Begegnung mit der Wirtschaft über seine Promotion", erklärt der Jesuit Friedhelm Hengsbach, der von 1992 bis 2006 das Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in St. Georgen leitete. Nell-Breuning promovierte 1928 über die "Grundzüge der Börsenmoral". "Über die Katholische Arbeiterbewegung hat er einen Standort eingenommen, von dem er Wirtschaft überwiegend aus der Perspektive der Arbeitsverhältnisse her betrachtet", sagt Hengsbach. Bevor Nell-Breuning in den Jesuitenorden eintrat, studierte er Mathematik und Naturwissenschaften. Dann kamen Theologie und Philosophie hinzu, bevor er sich schon in den 30er Jahren intensiv der Wirtschaft zuwandte.

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Friedhelm Hengsbach SJ ist ein deutscher Ökonom, Jesuit und Sozialethiker. Er leitete von 1992 bis 2006 das Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.

Nell-Breuning und das Prinzip der Subsidiarität

Er war Hauptautor der Sozialenzyklika "Quadragesimo anno", die Papst Pius XI. 1931 veröffentlichte. Darin wurde das Prinzip der Subsidiarität zum ersten Mal ausdrücklich erwähnt. Es betont die Selbstverantwortung jedes Menschen: Alles, was auf unterer Ebene geleistet werden kann, soll dort geschehen. Die höheren Ebenen sollen bereit stehen, um – falls nötig – zu unterstützen. Neben Solidarität und Personalität bildet die Subsidiarität eines der drei klassischen Sozialprinzipien. Sie fand Eingang in die EU-Verträge, die Staatstheorie und in die Wirtschaft. So machte die katholische Soziallehre Karriere – auch außerhalb der Kirche. Dazu trug die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" von 1965 über die Kirche in der Welt von heute bei, die die Hinwendung zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen bekräftigte.

Nell-Breuning rang mit Politikern, Unternehmern und Beschäftigten um die Frage nach der "guten Ordnung". Er wollte die Soziale Marktwirtschaft, aber innerhalb klarer Grenzen: Nach seinem Verständnis sollten Staat und Markt in einem echten Gleichgewicht stehen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Ordnung nannte der Jesuit etwas abschätzig einen "sozial temperierten Kapitalismus". "Er war absolut kapitalismuskritisch", sagt Hengsbach. "Die Schieflage der Arbeitsverhältnisse – hier die Minderheit der Produktionsmitteleigner, dort die Mehrheit der abhängig Beschäftigten – wollte er korrigiert sehen durch staatliche Intervention oder durch starke Gewerkschaften." Nell-Breuning kämpfte für faire Löhne und das Mitbestimmungsrecht der Angestellten in Unternehmen. Mit seinem Einsatz für Arbeitnehmer geriet der Nationalökonom in den Ruch, womöglich Marxist zu sein. Dem widerspricht Hengsbach: "Er hat die Gesellschaftsanalyse von Karl Marx übernommen, aber seine weltanschauliche Orientierung – wenn es um das Privateigentum ging oder die Religion – hat er als Christ natürlich abgelehnt."

„Unbestreitbar ist, dass wir auf Kosten der unterentwickelten Völker leben.“

—  Zitat: Oswald von Nell-Breuning

Immer wieder ergriff Nell-Breuning Partei für diejenigen, die drohten, angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung unter die Räder zu kommen. Das hat er mit dem heutigen Papst gemein. Dessen erstes Apostolisches Schreiben "Evangelii gaudium" kann als Weiterführung und Aktualisierung der katholischen Soziallehre gelten. "Das gesellschaftliche und wirtschaftliche System ist an der Wurzel ungerecht", schrieb Franziskus im November 2013. Diese Fundamentalkritik brachte ihm Widerspruch von Wirtschaftsvertretern ein. Zu pauschal, zu undifferenziert, hieß es.

"Wenn wir an die Soziale Marktwirtschaft denken, trifft dieser Satz, glaube ich, auf Deutschland nicht zu", meint Martin Wilde, Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Er glaubt, dass der Papst vor allem seine argentinische Heimat und vergleichbare Staaten im Blick hatte, als er von der Wirtschaft, die tötet, schrieb. "Das hängt aber nicht nur mit der Wirtschaft zusammen, sondern auch mit dem Rechtsrahmen, da liegt natürlich vieles im Argen", so Wilde. Der Papst spreche zwar die in etlichen Ländern verbreitete Korruption an, wünschenswert sei dazu jedoch eine tiefergehende Reflexion darüber. Unternehmen könnten angesichts staatlicher Defizite nur begrenzt etwas bewirken. Hier seien Politiker gefragt, findet BKU-Mann Wilde: "Die Verantwortung für all diese Missstände an der Türschwelle der Unternehmer abzuladen, ist sicherlich nicht sachgerecht."

Der Sozialethiker und Jesuit Hengsbach hingegen bricht eine Lanze für die "prophetischen Worte" von Franziskus. Der Papst wolle einen Perspektivwechsel erreichen: "Er betrachtet die Wirtschaft nicht aus der Perspektive der reichen Industrieländer, der bürgerlichen Mittelschicht heraus, sondern von unten.“ Jorge Mario Bergoglio ist durch die Theologie der Befreiung geprägt, deren Vertreter in den 70er Jahren die so genannte "Option für die Armen" in die katholische Soziallehre integrierten. Manche sprechen nun von deren Auferstehung unter Franziskus, der gesellschaftliche Fragen wieder in den Fokus rücke. Etwa die nach dem Schicksal der Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, während die Europäer ihre Grenzen dichtmachen. Oder: Wie schwer wiegen ökonomische Interessen angesichts menschlichen Leids?

Martin Wilde vom BKU betont, die katholische Soziallehre sei nicht gescheitert oder vergessen worden, im Gegenteil: "Sie hat gewonnen, denn zumindest in Deutschland und in der Europäischen Union ist sie in weiten Teilen in die Praxis umgesetzt." Kann die heutige Gesellschaft noch etwas von Oswald von Nell-Breuning lernen? "Es gibt viele Gegenden in der Welt, wo diese Ideale bislang nicht verwirklicht sind" sagt Wilde. "Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen für fairen Wettbewerb."

Von Burkhard Schäfers