Als die Kölner Kohlen klauten
Köln im zweiten Nachkriegswinter: In der durch Bombenhagel schwer zerstörten Stadt war es kalt. Bitterkalt. Letztmals trieben 1946 - vor 70 Jahren - dicke Eisschollen auf dem Rhein. Die Menschen froren im Dezember bei bis zu 15 Grad unter Null, und sie hatten fast nichts zu essen.
Odile Zernko war damals 16. Mit ihren Eltern lebte sie im Kölner Vorort Riehl. Die pensionierte Lehrerin erinnert sich an die Zeit nach 1945: "Unsere Wohnung war durch Granathagel zerstört. Mein Vater lag nach seiner Rückkehr vom Westwall im Krankenhaus. Für etwas Brot mussten wir stundenlang anstehen, und oft bekamen wir nichts. Trotz eisiger Außentemperaturen konnten wir in unserer Wohnung nur einen Raum heizen. Doch wenn wir schon hungerten, wollten wir nicht auch noch frieren." Deshalb lautete die Parole: "Klütten klauen", übersetzt: "Kohlen stehlen".
Mit dem Rucksack auf die Züge
Die Güterzüge aus dem Braunkohlerevier, erinnert sich Zernko, kamen über den Niehler Damm, wo sie manchmal ohne Lokomotive herumstanden. Abends, in der Dunkelheit, brauchten die Jugendlichen mit einem Rucksack eine halbe Stunde bis zu dieser Stelle. Die Cleveren hatten schnell die Tricks beim Kohlenklau heraus: Auf die letzten zwei, drei Waggons klettern, damit noch genügend Zeit zum Abspringen war, wenn der Zug anfuhr. "Manche Kinder erfroren, weil sie nicht schnell genug herunterkamen und die eisige Nacht im offenen Waggon bis nach Belgien nicht überlebten."
Manchmal gab es statt Briketts Steinkohle, "riesengroße Knubbel", die erst zerkleinert werden mussten. "Die stanken, weil unsere Öfen für Steinkohle nicht geeignet waren." Einmal "erwischten mich ein Bahnbeamter und ein Polizist und schimpften. Sie ließen mich aber laufen, weil ich nur noch ein Brikett im leeren Waggon entdeckt hatte". Ihrem Vater, einem Zollbeamten, war das mit dem Klauen nicht so recht.
Linktipp: "Der rheinische Kardinal"
Kardinal Josef Frings war als Erzbischof von Köln eine der bedeutendsten Figuren der deutschen Kirche in der Nachkriegszeit. Nun ist eine neue Biografie über den "Leutepriester" erschienen. Katholisch.de hat es sich angesehen. (Artikel von September 2015)Dann kam Silvester - und der Kölner Erzbischof Josef Frings nach Sankt Engelbert in Riehl. "Mutter und ich, wir waren nicht die Frömmsten und kamen ein bisschen zu spät. Ich kann mich noch gut an die dunkle, proppenvolle Kirche erinnern. Alle saßen mit dicken Jacken und Mützen in den Bänken. Der Kardinal predigte von der Kanzel, und jeder hätte eine Stecknadel fallen hören." Wie lange die Ansprache dauerte, weiß die inzwischen 86-Jährige nicht mehr, "aber sie war kurz, denn es war fies kalt." Doch in der Kürze liegt die Würze - und der Satz, mit dem Frings Geschichte machte und den Nerv der Zeit traf: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann."
"Der Frings hat uns grünes Licht gegeben", sagt Zernko, "denn wer stiehlt schon gerne?" Die Mutter ging nach Hause und rieb dem Vater "immer wieder diese Worte unter die Nase". Jetzt wurden in Köln und Umgebung nicht nur die Kohlenzüge für das alliierte Ausland, sondern auch Lastautos heimischer Händler geplündert. Dass die Rheinländer mehr taten, als ihr Kardinal gemeint hatte, liegt wohl ihrem überschwänglichen Naturell begründet.
Für die Menschen bestellt
Frings selbst schildert seine Erinnerungen später ohne jedes Pathos: "Da ich mir den Wahlspruch gewählt hatte, 'Für die Menschen bestellt', sah ich es auch als meine Aufgabe an, denen, die in Not waren, zu helfen." Weil er "ein menschenwürdiges Leben" unter den herrschenden Umständen nicht für möglich hielt, habe er den "etwas kühnen Vorstoß" gewagt - mit vielen Einschränkungen. "Aber das ging dann wie ein Lauffeuer durch die ganze Diözese. Überall wurden tapfer Kohlen geklaut." Und "Fringsen" wurde nicht nur in Köln zum festen Begriff.
Doch die Begeisterung für die um sich greifende Form der Beschaffung war nicht grenzenlos. Die britische Militärverwaltung wollte Frings zur Rechenschaft ziehen. Als sich beim entscheidenden Termin in Düsseldorf der Gesprächspartner verspätete, verließ Frings nach einer Viertelstunde die Militärverwaltung und sagte zu seinem Chauffeur: "Jetzt schleunigst weg, es konnte gar nicht besser gehen!"