"Aus Untertan wird Kunde"
Michael Ebertz ist einer von rund 15 Experten, denen die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie zuerst vorgestellt wurden. "In der Studie wurde nach drei Dingen gefragt", sagt er gegenüber katholisch.de. Das seien die religiöse Zugehörigkeit, die religiöse bzw. spirituelle Selbsteinschätzung und die Einschätzung der Religiosität von außen. "Dazu wurden Fragen wie 'Glauben Sie an Gott?' gestellt", so der Soziologe.
Schade sei es, dass Zeitungen wie die "Welt" diese Dinge vermischt hätten. Denn die Studie trenne das sauber und sei seriös. Kirchlichkeit sei nicht identisch mit Christlichkeit und die wiederum nicht identisch mit Religiosität, erklärt der Soziologe. Denn es gebe Christen, die weder katholisch noch evangelisch seien. "Und natürlich viele Muslime, die stark religiös sind", so Ebertz weiter. Und die leeren Kirchenbänke? Der Gottesdienst sei dann noch einmal eine ganz spezielle Form der Kirchlichkeit. Hier müsse sich die Kirche der modernen Gesellschaft anpassen, um weiter interessant zu sein.
Gottesdienst nicht mehr zwischen agrarischen Futterzeiten
"Wir brauchen ein plurales Angebot, müssen zu den verschiedenen Milieus auf differenzierte Weise Kontakt aufnehmen", sagt der Freiburger Professor. Das gehe über die Musik, die Ästhetik – aber auch über die Gottesdienstzeit. "Wer um drei Uhr morgens nach Hause kommt, geht nicht um zehn in die Kirche", ist er sich sicher. Der Zehn-Uhr-Gottesdienst: ein Relikt? "Die Messe muss ja heute nicht mehr zwischen den agrarischen Fütterungszeiten stattfinden", antwortet der Soziologe.
Wer die Bertelsmann-Studie betrachtet, kann zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Modernisierung der Feind der Religiosität ist. Während in Europa die Religiosität abnimmt – egal ob in Deutschland, Schweden oder auch Spanien und Frankreich – ist der Anteil der Nichtgläubigen in Indien oder der Türkei schwindend gering. Doch Ebertz hält dagegen: "Dieser Zusammenhang ist so nicht eindeutig." In den USA sei er beispielsweise nicht zu erkennen.
"Sehe ein unglaubliches Wachstumspotenzial"
"Die Modernisierung wird erst dann zum Problem, wenn die Kirchen sich nicht anpassen", sagt der Religionssoziologe. Dies sei nicht mit einer Angleichung zu verwechseln, die man "tendenziell bei der evangelischen Kirche" erkennen könne. Ebertz präsentiert dafür ein Bild: "Die Gesellschaft ist wie eine Steckdose, die Kirche der Stecker." Er müsse passen, damit der Strom fließen, Kommunikation stattfinden könne.
Und Ebertz geht noch einen Schritt weiter. Er sieht sogar ein "unglaubliches Wachstumspotenzial" für die Kirche. Umfragen hätten gezeigt, dass 70 Prozent der Bürger in Deutschland froh sind, dass es die Kirche gibt – auch die Muslime. Die Kirche werde nicht nur kritisiert. Es seien vielmehr auch Erwartungen und Hoffnungen an sie geknüpft. Doch signalisierten die Studien auch Änderungsbedarf.
„Der Gläubige kommt heute nicht mehr aus Gehorsam.“
Das sei in Ländern wie Schweden oder Deutschland schwierig, meint Ebertz. Denn die stünden eher in "staatskirchlicher Tradition", würden finanziell vom Staat unterstützt. Dadurch sei der Anpassungsdruck schwächer als beispielsweise in den USA, schlussfolgert der Soziologe. Die Beziehung von Mensch und Gesellschaft, aber auch von Mensch und Kirche habe sich aber verändert. "Aus dem Untertanen wird ein Kunde. Das ist ein Paradigmenwechsel."
Und Michael Ebertz bleibt in der Bildersprache: "Der Stecker soll nicht zur Dose werden. Und die Kirche den Trends nicht hinterherlaufen." Doch müsse sie die Kritik ernst nehmen. Kritik an der Sexualmoral beispielsweise – oder an den Machtstrukturen. Auch seien noch immer knapp 50 Prozent der Gläubigen von bedeutenden kirchlichen Ämtern ausgeschlossen: die Frauen. Dabei habe schon Joseph Kardinal Höffner in den 60er-Jahren erkannt: "Die Frauenfrage ist wichtiger als die Atomfrage."
Die Kirche müsse dazu aber auch die Analysen der Fachleute ernst nehmen. Stattdessen würden ihre Studien "meist abgewertet", sagt Ebertz. Und sie müsse enger mit den Laien – zum Beispiel aus dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken – zusammenarbeiten. Am Ende muss dem Gläubigen wohl einfach etwas geboten werden. Denn, da ist sich der Soziologe sicher: "Der Gläubige kommt heute nicht mehr aus Gehorsam."
Von Björn Odendahl