Das Bekenntnis zu dem einen Gott
Bereits der Name des Buches ist Programm. Joël bedeutet auf Hebräisch: JHWH ist Gott. Das heißt, es gibt für Israel keinen anderen Gott außer dem, der sich dem Volk mit seinem Namen "JHWH" offenbart hat. Das ist die Botschaft dieses Prophetenbuches und zugleich auch die Problematik, mit der es ringt: "Dann werdet ihr erkennen, dass ich mitten in Israel bin und dass ich der HERR [=JHWH] euer Gott bin, ich und sonst niemand" (Joël 2,26), so verkündet es Gott in der Mitte und in anderen Worten nochmals am Ende des Buches. Alles Heil und alles Unheil, das Israel widerfährt, geht somit von diesem einen Gott aus, der kommen wird um Israel und alle Völker zu richten. Vor diesem Gericht, das Tag JHWHs genannt wird, warnt das Buch und verbreitet Angst und Schrecken: "Ja, groß ist der Tag des HERRN [=JHWH] und voll Schrecken. Wer kann ihn ertragen?" (Joël 2,11). Diese Frage steht im Mittelpunkt des Buches und der Prophet selbst tritt völlig in den Hintergrund. Über Joël erfahren die Leser, außer dem Namen seines Vaters, nichts – nicht einmal die Zeit, in der er gewirkt haben soll.
Das Buch beginnt mit der Schilderung einer allumfassenden Katastrophe. Durch Naturkatastrophen und Krieg ist kein Leben im Land mehr möglich (Joël 1). Das damit einhergehende Leid wird als Vorbote des Tages JHWHs gedeutet, der wie ein kommender Krieg Gottes gegen sein Volk beschrieben wird (Joël 2,1-11). Das Schicksal Israels scheint besiegelt zu sein. Anders jedoch als in den anderen Prophetenbüchern wird das Urteil Gottes nicht durch einen Schuldnachweis begründet, noch die Katastrophenerfahrung als Zorneshandeln Gottes dargestellt. Der Vorwurf erklingt erst in der Heilszusage. Wenn es nur einen Gott gibt, dann ist der strafende Gott mit dem heilbringenden Gott identisch. Innerhalb der Schreckensbilder des Buchanfanges ruft der Prophet immer wieder zu Klagegebet und Fasten auf und bittet Gott um Hilfe – und Gott antwortet: "Auch jetzt noch – Spruch des HERRN: Kehrt um zu mir von ganzem Herzen, mit Fasten, Weinen und Klagen!" (Joël 2,12). So wie der Mensch zu Gott umkehren kann, so kann Gott sich von seinem Zorn abkehren, worauf das Buch Joël mit der sogenannten Gnadenformel verweist: "Denn er [= Gott] ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld, und es reut ihn das Unheil." (Joël 2,13). Wie in der Sintflutgeschichte und im Buch Jona wird Gott das Gefühl der Reue zugeschrieben, das sein strafendes Handeln aufzuhalten vermag.
Linktipp: Micha, der Prophet der Pazifisten
Mit dem Appell "Schwerter zu Pflugscharen" ist der Prophet Micha zum Stichwortgeber der deutschen Friedensbewegung geworden. Doch das gleichnamige Buch im Alten Testament ist auch für die Geburt Jesu wichtig.Diese persönliche Dynamik ist jedoch kein Automatismus. Die Gemütsbewegungen Gottes bleiben der menschlichen Einsicht vollkommen verborgen und der Mensch vermag nur zu hoffen – in den Worten Joëls: "Wer weiß, vielleicht kehrt er [= Gott] um und es reut ihn, und er lässt Segen zurück." (Joël 2,13). Das Bekenntnis "mit ganzem Herzen" zu dem einen Gott ist im Buch Joël das Kriterium des Glaubens, das zwischen Heil und Unheil entscheiden kann. Daher wird das Volk aufgefordert, gemeinsam in einem Gottesdienst sich zu Gott zu bekennen und ihm das Leid zu klagen: "Zwischen Vorhalle und Altar sollen die Priester klagen, die Diener des HERRN sollen sprechen: Hab Mitleid HERR, mit deinem Volk und überlass dein Erbe nicht der Schande, damit die Völker nicht über uns spotten! Warum soll man bei den Völkern sagen: Wo ist denn ihr Gott?" (Joël 2,17).
Gottes Antwort: Heil anstatt Strafe
Dieses Bittgebet, das die Umkehr anzeigen soll, ist jedoch keine Unterwerfung, sondern lässt sich auch als Vorwurf an Gott lesen: Gott schade sich selbst, wenn er Israel im Angesicht der Völker bestraft. Aus dem Bekenntnis zu Gott folgt die Forderung, dass Gott sich zu seinem Volk bekennen soll. Und auf diese Chuzpe antwortet Gott mit Heil anstatt Strafe: "Da erwachte im HERRN die Leidenschaft für sein Land und er hatte Erbarmen mit seinem Volk" (Joël 2,18). Gott lässt aus dem Land, das kein Leben mehr ermöglicht, eine blühende Landschaft werden, die sein Volk sättigt. Aus dem Unheil wird so ein Machterweis Gottes, der Israel erkennen lässt, dass nur er Gott ist "und sonst niemand" (Joël 2,27). Am Ende der ersten Hälfte des Buches Joël erkennt der Leser, dass das Heil Israels in der Beziehung zu Gott zu finden ist – eine andere Option gibt es nicht.
Die zweite Hälfte des Buches Joël entwirft die Zukunft und zeigt nun die positiven Seiten des kommenden Tages JHWHs. Das für Israel verkündete Heil wird zur Strafe für die Völker. Während am Anfang des Buches das Unheil, das über Israel hereinbricht, nicht begründet wird, werden am Ende des Buches die Völker aufgrund ihrer Taten gegen Israel bestraft. Gott wird nicht gegen sein eigenes Volk in den Krieg ziehen, sondern der Tag JHWHs wird als Krieg Gottes gegen die Völker zugunsten Israels geschildert: "Juda aber wird für immer bewohnt sein und Jerusalem von Geschlecht zu Geschlecht, ich [=Gott] erkläre ihr Blut für unschuldig, das ich vorher nicht für unschuldig erklärte, und der HERR wohnt auf dem Zion." (Joël 4,20-21).
Der verheißene Tag JHWHs ist im Buch Joël der Beweis, dass der Gott Israels der einzige Gott ist. Da es für das Buch Joël nur einen Gott gibt, der in seinem Wesen als langmütig und barmherzig beschrieben wird, wirft sich die Frage auf, in welchem Verhältnis der Gott Israels zu den Völkern steht. Das Ende des Buches schildert ein erbarmungsloses Gericht. Doch für die Völker besteht ebenso wie für Israel die Möglichkeit der Umkehr. Ebenso wie Gott Israel die Umkehr zu ihm ermöglicht, so verhält er sich auch gegenüber den Völkern: "Und jeder, der den Namen des HERRN anruft, wird gerettet." (Joël 3,5). Das Bekenntnis zu dem Gott Israels wird auch für alle Menschen zum Heilskriterium – und Gott geht noch einen Schritt weiter: "Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch." (Joël 3,1). Vor dem Tag JHWHs wird Gott sich allen Menschen erfahrbar machen und in eine unmittelbare Beziehung zu ihnen treten. In Israel werden durch den Geist Gottes alle zu Propheten werden.
Petrus nimmt diese Vision in seiner Rede in der Apostelgeschichte auf und deutet mit ihr das Pfingstereignis (Apostelgeschichte 2,17-21). Die Geburtsstunde der verkündenden Kirche sei die Verwirklichung der Vision Joëls, die alle Unterschiede der Gottunmittelbarkeit im Volk aufhebt und zum Glauben der Völker an den Gott Israels führt, bevor das Gottesgericht, die Wiederkunft Jesu, sich ereignen wird. So ist das Buch Joël sowohl für Juden als auch für Christen der Aufruf sich im Angesicht des kommenden Tages JHWHs zum Gott Israels zu bekennen.