"Das Dach brennt und wir diskutieren"
"Schafft sich die katholische Kirche ab?" – das war 2012 der Titel des Buches von Thomas von Mitschke-Collande. Darin analysiert der ehemalige Unternehmensberater und Katholik die Krise der katholischen Kirche unter wirtschaftlichen Maßstäben, stellt aber auch die Chancen für einen Neuanfang vor. Der 67-Jährige war Direktor der Unternehmensberatung McKinsey in München und hat mehrere Bistümer und die Deutsche Bischofskonferenz beraten.
Frage: Herr von Mitschke-Collande, vor fünf Jahren haben Sie Ihr Buch "Schafft sich die katholische Kirche ab?" veröffentlicht. Würden Sie ein solches Buch auch heute noch schreiben?
Thomas von Mitschke-Collande: Ja, auf jeden Fall. Das Buch sollte ein Denkanstoß sein und das hat ja auch geklappt. Es wurde viel diskutiert. Heute würde ich allerdings zwei zusätzliche Schwerpunkte setzten: Ich würde mehr darauf eingehen, welche Bedeutung die Kirche für die Zukunft unserer Gesellschaft hat. Und vor allem darauf, welche Verantwortung wir als Gläubige für die Zukunft des Glaubens und der Kirche haben.
Frage: Damals wie heute hat die Kirche ein Problem, das in der freien Wirtschaft so wohl kaum vorkommt: schwindende Kundschaft und ein Mangel an Angestellten, aber viel Geld. Kann man also Erkenntnisse aus der Wirtschaft einfach so übertragen?
Von Mitschke-Collande: Das ist ein schwieriges Thema. Die Kirche ist kein Unternehmen und lässt sich in weiten Teilen nicht mit wirtschaftlichen Überlegungen fassen. Daneben ist sie aber auch eine Institution mit Mitarbeitern, Geld und Organisationsstrukturen. Das ist eher vergleichbar. Wobei auch dieser Vergleich hinkt, denn ein Gläubiger ist ja kein konsumierender Kunde, sondern ebenso ein Teil dieser Kirche, der durch sein Glaubenszeugnis zum Erfolg beiträgt. Ich finde es verkehrt, Kirche als reine Dienstleistungsorganisation zu verstehen, sozusagen als Institution für spirituelle, sakramentale Daseinsfürsorge. Darauf darf man sich nicht beschränken. Nichtsdestotrotz kann man einige Erkenntnisse aus der Wirtschaft heranziehen, um zu prüfen, ob sie in differenzierter Form anwendbar sind.
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Der Papst präsentierte in der vergangenen Woche eine drastische Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens in Deutschland. Dem Religionssoziologen Michael N. Ebertz geht die aber noch nicht weit genug, wie er im Interview verrät. (Artikel von November 2015)Frage: Wie geht denn die Kirche mit ihrer Krise um? Gab es da in der Zwischenzeit Verbesserungen?
Von Mitschke-Collande: Insgesamt gibt es zu viele interne Sitzungen, die nur den Mangel verwalten und optimieren sollen. Da wird viel debattiert, oft Themen, die die Masse der Gläubigen und der Gesellschaft gar nicht interessieren. Beispiel Familiensynode: Welche Organisation könnte es sich leisten, ein solches Thema so intensiv zu diskutieren, wenn um einen herum die Welt brennt? Dadurch sind ja die besten Führungsressourcen dieser Institution über zwei Jahre gebunden! Wäre es nicht wichtiger gewesen, in diesem Rahmen darüber zu diskutieren, wie man ein globales kirchliches Bündnis schmieden kann, um sich mit dem gesamten Einfluss, den wir haben, gegen Klimawandel, Migration und Armut einzusetzen? Das wäre, von den Prioritäten her gesehen, vielleicht wichtiger gewesen als die Frage zu beantworten, ob wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zugelassen sind.
Was mir also fehlt, sind grundsätzliche Diskussionen darüber, wie man Kirche in 20 oder 30 Jahren organisieren und gestalten will. Und wie man Glaubensinhalte so formuliert, dass sie für den Menschen des 21. Jahrhunderts relevant sind. Wir haben weniger eine Kirchenkrise, sondern vor allem eine Glaubenskrise. In Zukunft werden wir vielleicht nur noch 15 bis 20 Millionen Mitglieder haben. Daher muss man heute bereit sein, neue Wege zu gehen und Altes über Bord zu werfen. Wir diskutieren sozusagen gerade die Inneneinrichtung und merken nicht, wie das Dach lichterloh brennt.
Frage: Sie forderten eine "dienende, hörende, helfende, lernende Kirche", die auf die Kirchenfernen zugeht. Das sind seit 2013 auch die Themen von Papst Franziskus. Wie weit ist das bisher gelungen?
Von Mitschke-Collande: Durch Papst Franziskus ist vieles losgetreten worden. Er setzt die richtigen Themenschwerpunkte, weg von der Eurozentrierung. Die Atmosphäre hat sich deutlich verändert: Er prangert die Missstände in der Kirche an und fördert eine konstruktive und angstfreie Streit- und Diskussionskultur, die in den letzten Jahrzehnten nicht stattgefunden hat – zu der auch gehört, dass sich konservative Kreise zu Wort melden. Und er fordert die Ortskirchen und die Bischöfe auf, mutige Vorschläge zu machen. Aber da ist bis jetzt wenig passiert: Es gibt bisher keine Vorschläge der Bischofskonferenz, die uns weiterbringen. Hier wird eine Chance nicht genutzt! Das liegt auch daran, dass für innovative Ideen die notwendige Bereitschaft für einen Paradigmenwechsel fehlt: Beispielsweise sind wir es gewohnt, kirchliche Prozesse von oben nach unten, also vom Priester her, zu denken und zu organisieren. Dabei müssten sie eigentlich vom Gläubigen her, also von der Gemeinde vor Ort, gedacht werden. Und die Gläubigen müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und die Neugestaltung mitmachen. Das heißt für sie, loslassen und sich auf Neues einlassen.
Frage: Was kann denn der Einzelne tun?
Von Mitschke-Collande: Es liegt an uns, ob die Kirche Zukunft hat, oder nicht. Papst und Bischöfe machen es uns einfacher oder schwerer, aber wir müssen anfangen. Dazu gehört, nicht nur auf Freiheiten und Mitentscheidung zu pochen und zu meckern, sondern auch Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel müssen wir Gläubigen auch dazu bereit sein, Veränderungen zu akzeptieren, etwa, dass ein Gottesdienst, der von einem Laien geleitet wird, gleichwertig ist mit einem, der von einem geweihten Priester gefeiert wird. Und wir müssen uns engagieren, etwa im sozialen Bereich oder in der Öffentlichkeit, und Zeugnis für das Evangelium abzulegen. Das haben wir zum Beispiel bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gesehen: Die wäre ganz anders verlaufen, wenn sich nicht so viele Christen engagiert hätten.
Frage: Danach, dass sich alles auf die Gemeinde ausrichtet, sieht es bisher nicht aus, denn in fast jedem deutschen Bistum gibt es inzwischen Zusammenlegungen von Pfarreien. Wie bewerten Sie das?
Von Mitschke-Collande: Das ist der falsche Weg, er führt weg vom Menschen hin zu mehr Distanz und Entfremdung. Es ist eine Sackgasse. Zum Glück gibt es eine ganze Reihe von Bistümern, die das erkannt haben und sich überlegen, wie Gemeindeleben vor Ort menschennäher organisiert werden kann. Was ich in meinem Buch kritisiert hatte, aber was sich nicht geändert hat, ist die kirchliche Bürokratie. In einem Beitrag in der Herder Korrespondenz schreibt Thomas Sternberg beispielsweise, das Ordinariat des Erzbistums Köln habe im Jahr 1950 30 Mitarbeiter gehabt. Heute hat es über 500 Mitarbeiter, aber im gleichen Zeitraum ist der Gottesdienstbesuch von 50 Prozent auf zehn Prozent zurückgegangen. Wir brauchen eine Debatte über die Dezentralisierung von Kompetenzen, Ressourcen und Finanzmitteln, um die Gemeinden vor Ort zu stärken und von der Versorgungsmentalität durch das Ordinariat wegzukommen. Aber das ist schwierig: Wer gibt schon gerne Macht ab?
„Wir haben keinen Priestermangel, sondern einen Weihemangel“
Frage: Wie müsste die Kirche denn Ihrer Meinung nach auf die sinkenden Mitgliederzahlen und den Priestermangel reagieren?
Von Mitschke-Collande: Die Überlegung müsste sein: Wie will ich das Gemeindeleben vor Ort organisieren? Danach sollte sich alles richten. Der nächste Schritt wäre, zu überlegen, wie man zu mehr geweihten Geistlichen kommt. Wir haben keinen Priestermangel, sondern einen Weihemangel: Es gibt eine ganze Reihe von Personen, die geeignet wären, gute Seelsorger zu sein. Die werden aber von der Weihe ausgeschlossen – sei es aufgrund des Pflichtzölibats oder ihres Geschlechts. Davon abgesehen, müssen bestimmte Funktionen auch nicht unbedingt durch einen Priester ausgeführt werden. In Frankreich gibt es ein gutes Beispiel. Der damalige Erzbischof von Poitiers, Albert Rouet, wies einer Pfarrei erst einen Geistlichen zu, wenn dort genug Personen waren, die das Gemeindeleben vor Ort verantwortlich gestalteten.
Frage: Sie sprechen da die Öffnung des Priesteramtes an. Das wird in letzter Zeit immer wieder gefordert – oft verbunden mit dem Wunsch nach Modernisierung. Ist das für Sie eine Lösung?
Von Mitschke-Collande: Nichts ist schlimmer, wenn man sich modernisiert, nur um modern zu sein. Das Diakonat der Frau, das Pflichtzölibat – das sind Themen, die gelöst werden müssen. Aber das sind nicht die entscheidenden Themen im Schrumpfungsprozess. Sondern es geht um unsere Kernbotschaft: Wie kann sich die Kirche relevant für die heutige Gesellschaft machen? Wie halten wir es mit Gott, was bedeutet uns das Evangelium in der heutigen Zeit? Inwiefern kann es mir helfen, das Leben hier und heute sinnvoll zu gestalten? Das ist ja meistens der Grund für die Kirchenaustritte, dass die Menschen finden, die Kirche hätte ihnen nichts mehr zu sagen. Dafür Lösungsansätze zu finden, ist die eigentlich drängende Aufgabe. Und natürlich kann die Kirche nicht ihre Augen vor den Zeichen der Zeit verschließen, sondern muss darauf reagieren und eine Antwort im Sinne des Evangeliums geben – wie sie es immer in ihrer 2.000-jährigen Geschichte gemacht hat.
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Was ist der Grund für die Kirchenkrise? Eine Konsumentenmentalität, wie Pfarrer Thomas Frings es beklagt? Oder zu viele Hauptamtliche? Dagegen verteidigt Pastoralreferent Peter Otten die Professionalität in der Kirche. (Artikel von Februar 2016)Frage: Nochmal zu den Frauen: Ihr ehemaliger Arbeitgeber McKinsey hat in den Studien "Women Matter" unter anderem belegt, dass Unternehmen mit mehr als zwei Frauen in der Führungsebene stärker wachsen als die Konkurrenz und höhere Gewinne machen. Könnte man das nicht auch auf die Kirche übertragen?
Von Mitschke-Collande: Die Fähigkeit, ob jemand ein guter Manager ist, hängt nicht vom Geschlecht ab. Aber eine Organisation, die systematisch und strukturell Frauen in Führungspositionen vernachlässigt, verzichtet im Endeffekt auf 50 Prozent Führungspotential. Frauen bringen oft andere Fähigkeiten und Perspektiven mit ein. Die Kirche in Deutschland hat, was das angeht, wesentliche Anstrengungen gemacht. In Rom gibt es darin noch großen Nachholbedarf. Warum wird etwa die Finanzkongregation der Kurie, in der auch Laien sitzen, nicht von einer Frau geführt? Das wäre ein Zeichen. Kirchenrechtlich stünde dem nichts entgegen.
Frage: Was könnten eigentlich umgekehrt Unternehmensberater von der Kirche lernen?
Von Mitschke-Collande: Sehr viel. Die Kirche ist mit ihrer über 2.000-jährigen Geschichte die älteste und erfolgreichste Organisation der Welt, da kann man sich abschauen, was erfolgreich war. Man kann an ihr auch sehen, wie wichtig Werte und Überzeugungen für Organisationen sind. Zum Erfolg reichen eben nicht nur Prozesse und Strukturen, sondern es sind Menschen mit ihren Vorstellungen und Erwartungen beteiligt, denen man entsprechen muss, ohne aber die Kernbotschaft zu verwässern.