"Das Gottesbild verdunkelt"
Aber die Kirche ist auf einem guten Weg. Sie hat ihre Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger innerhalb der Kirche überarbeitet und die Rahmenordnung zur Prävention mehrfach aktualisiert. Es gibt Beratungs- und Hilfsangebote sowie einheitliche Antragsformulare für materielle Entschädigungen. Zahlreiche Präventionsprojekte in Pfarreien, Schulen oder Kinderheimen sollen direkt an der Basis helfen, das Risiko von Missbrauchsfällen künftig zu minimieren. Die Deutsche Bischofskonferenz hat außerdem eine neue Missbrauchsstudie in Auftrag gegeben.
Und dann gibt es da noch die jährlich stattfindenden Fachtagungen. Hier kommen die Missbrauchs- und Präventionsbeauftragten der Bistümer und Ordensgemeinschaften, der katholischen Schulen und Caritaseinrichtungen aus ganz Deutschland zusammen, um sich über fachliche Hintergründe und neue wissenschaftliche Erkenntnisse auszutauschen. In den vergangenen Jahren ging es etwa um den opfergerechten Umgang mit Tätern (2012) oder institutionelle Schutzkonzepte (2014).
"Chancen und Risiken von Spiritualität"
Jetzt sind die rund 60 Beauftragten unter der Leitung des Trierer Bischofs Stephan Ackermann erneut für zwei Tage zusammen gekommen – und haben sich in diesem Jahr eines heiklen Themas angenommen. Sie wollten über die "Chancen und Risiken von Spiritualität" im Umgang mit Missbrauchsopfern sprechen. "Wir können uns an dieses Thema nur sehr, sehr vorsichtig herantasten", sagte Ackermann, der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, am Mittwoch in Köln. Schließlich bestehe immer die Gefahr, dass der Missbrauch und das Leid der Opfer "übertüncht" würden, wenn man sich zu schnell mit theologisch-spirituellen Aspekten beschäftige.
Dennoch wolle man das Thema künftig nicht mehr ausklammern, sagte Ackermann. Denn die Auswertung der Telefon-Hotline, die die Bischofskonferenz bis 2012 für rund zwei Jahre freigeschaltet hatte, mache deutlich, dass die Opfer in der Kirche beheimatet waren – und teilweise auch noch sind. Gerade weil der Missbrauch in diesem Kontext stattgefunden habe, habe der Glaube aber Schaden genommen. Das Gottesbild sei verdunkelt worden, so der Bischof. "Den missbrauchten Kindern und Jugendlichen wurde damit eine wichtige Ressource genommen – auch in Bezug darauf, den Missbrauch zu verarbeiten." Einige der Rückmeldungen zeigten, dass Menschen mit Hilfe der Seelsorge den Versöhnungsweg gehen konnten. Andere hätten sich dagegen eine stärkere spirituelle Hilfe seitens der Kirche gewünscht.
Wie viel Kirche kann und darf man den Missbrauchsopfern zumuten?
Es ist also ein zweischneidiges Schwert, mit dem sich die Missbrauchsbeauftragten in den vergangenen beiden Tagen beschäftigt haben: Wie viel Kirche kann und darf man den Missbrauchsopfern zumuten? "Die Kirche sagt, sie bringt das Heil und doch haben ihre Vertreter nur Unheil über die Opfer gebracht", resümierte Hildegund Keul. Die Leiterin der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Bischofskonferenz bezeichnet diesen Widerspruch in ihrem Vortrag vor den Tagungsgästen als "Super-Gau". Wenn Missbrauch innerhalb der Kirche geschehen könne, sei es auch an der Zeit, den eigenen Heilsauftrag zu überdenken, sagte sie.
Für Keul ist klar: Man muss zu allererst die Wunden in den Blick nehmen. Denn auch das Vertuschen der Missbrauchsfälle habe damit zu tun. "Die Kirchenoberen haben andere verwundet, damit die Institution selbst nicht verwundet wird", sagte sie und nennt das "die Herodes-Strategie". Solche Schutzmechanismen hätten immer ein eigenes Gewaltpotenzial und führten zu Ausschließung und am Ende gar zu Menschenrechtsverletzungen. "Die Kirche darf sich selbst schützen, aber nicht in jedem Fall und um jeden Preis."
Noch wichtiger seien aber die Wunden der Opfer, die nicht so einfach heilen und die – selbst wenn sie es tun – Narben hinterlassen. "Eine Option für die Kirche ist es deshalb, Rituale der Heilung zu entwickeln, am besten gemeinsam mit den Opfern", schlug Keul vor. Damit könne man ihnen helfen, sie aus dem lähmenden Zustand der "Viktimisierung" (Opferrolle) herauszuführen. Eine andere pastorale Herausforderung seien beispielsweise "triggerfreie Gottesdienste". Gemeint sind liturgische Feiern, die mögliche Reize verhindern, durch die Opfer an den Missbrauch und ihr Trauma erinnert werden. Keul berichtet, dass viele Missbrauchsopfer zum Beispiel ein Problem mit den Worten "Vater, dein Wille geschehe" hätten. "Ich weiß, dass das schwierig wird. Aber wir sollten es dennoch versuchen."
Opfer stellen die Theodizeefrage
Karlijn Demasure rät dazu, sich den Missbrauchsopfern über Bilder und Geschichten zu nähern und nicht über Konzepte. "Konzepte erreichen nur das Gehirn, aber nicht das Herz", sagte die Geschäftsführerin des Zentrums für Kinderschutz an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Sie berichtete davon, dass sich Missbrauchsopfer häufig die klassische Theodizeefrage nach der Güte, Allmacht und Gerechtigkeit Gottes stellen: Ist Gott wirklich in Sorge um mich? Wenn ja, warum hat er nicht eingegriffen? Oder wollte er und konnte nicht? Oder hat er vielleicht gar nicht gesehen, dass ich das nicht verdient habe?
Demasure glaubt, dass die Missbrauchsopfer einen neuen Zugang zu Gott nur dann finden können, wenn man diese Gottesbilder in ihren Köpfen zerstört. Sie müssten Gott als Freund kennenlernen, damit sie sich wieder trauen, Fragen an ihn zu stellen. Dabei gehe es auch um Fragen von Schuld und Sünde. "Die Opfer glauben häufig, dass sie selbst daran Schuld sind, missbraucht worden zu sein", so die Trauma-Expertin. Sie rät daher davon ab, ihr Leiden noch in irgendeiner Art und Weise zu überhöhen. "Eine Kreuzestheologie, wie sie Anselm von Canterbury vertreten hat, müssen wir deshalb infrage stellen." Das Argument, dass Jesus immerhin auch gelitten habe, um uns von den Sünden zu erlösen, sei der falsche Ansatz.
Trotz erster Schritte blieben noch viele Fragen, gestand Bischof Ackermann. Zum Beispiel, was die Missbrauchsfälle für das zu sehr idealisierte Priesteramt, für die Sakramente und die gesamte Theologie der Kirche bedeute. Und letztlich müsse man irgendwann auch die Täter in den Blick nehmen. "Bei aller Abscheu gegenüber den Verbrechen bleiben die Täter Menschen mit Personenwürde", so der Trierer Oberhirte.
Dass die Kirche auf einem guten Weg ist, bestätigte schließlich auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Kurzfristig hatte Johannes-Wilhelm Rörig einen Besuch der Fachtagung in Köln angekündigt. Er sei "beeindruckt vom Engagement und der Beharrlichkeit in der Missbrauchsaufklärung" – auch, wenn dabei einige Widerstände überwunden werden müssten. "Kirche ist heute nicht mehr Primär Tatort, sondern Kompetenzort, an dem Kinder und Jugendliche Hilfe und Unterstützung bekommen", sagte Rörig. Als Zeichen dafür unterschrieben er und Bischof Ackermann am Ende des Tages eine gemeinsame Erklärung (siehe Info-Kasten), mit der künftig ein vom "Runden Tisch" empfohlenes Schutzkonzept in allen katholischen Einrichtungen in Deutschland umgesetzt werden soll.