"Das Selbstwertgefühl sinkt"
Einen Flitzer auf zwei Rändern kann er sich nicht leisten. Im Gegenteil: Schon bei einer ausgedehnteren Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln überlegt Thorsten Deml, ob sich das wirklich rentiert.
Macht Arbeitslosigkeit einsam?
An diesem Morgen ist es ihm die Investition wert. Deml ist einer von rund zehn Männern, die zum Frühstück des Arbeitslosentreffs "Kompass" gekommen sind, das die katholische und evangelische Kirche in Darmstadt an jedem zweiten Montag anbieten. Ab halb zehn sitzen sie dann in den Räumen der bahnhofsnahen Gemeinde St. Fidelis mit ehrenamtlichen Seelsorgern bei Kaffee und Brötchen beieinander – mal tauschen sie sich in einer offenen Diskussionsrunde aus, mal halten Gastreferenten einen Vortrag, mal macht die Gruppe einen Ausflug. Es sind fast ausschließlich Menschen, die schon länger arbeitslos sind und von Hartz IV leben, die dieses Angebot nutzen. 399 Euro haben sie pro Monat zur Verfügung, um alles außer der Miete zu bezahlen – von Essen über Kleidung bis hin zu Gesundheitspflege.
"Heute geht es um die Frage, inwiefern Arbeitslosigkeit einsam macht", erklärt Bruno Schumacher zur Einführung. Bis vor einem halben Jahr war der 61-Jährige mit dem Karohemd und dem Kapuzenpulli Arbeitslosenseelsorger im Bistum Mainz. Doch auch jetzt, in der Ruhephase seiner Altersteilzeit, betreut er den Darmstädter und weitere vier Kompass-Stammtische der Diözese weiter. Dass ein Bistum sich einen eigenen Seelsorger für Arbeitslose leistet, ist selten. Als Schumacher 1983 anfing, war es die erste Stelle deutschlandweit, und auch heute gibt es nur noch einen weiteren Kollegen im Erzbistum München und Freising. "Damals, als die Arbeitslosigkeit erstmals über die historische Marke von zwei Millionen stieg, wollten wir die Betriebsseelsorge auch auf Menschen ausdehnen, die eben nicht im Arbeitsprozess sind", sagt Schumacher.
Die Diskussion während des Frühstücks ist lebhaft . Die Männer schauen einen knapp achtminütigen Film mit dem Titel "Hartz IV und die Einsamkeit 2014", der bei einem Seminar für Arbeitslose im vergangenen Herbst entstanden ist. Im Anschluss gibt es eine Menge Wortmeldungen. "Einsamkeit gibt es nicht nur bei Arbeitslosen, sondern zum Beispiel auch bei Senioren", sagt einer der Teilnehmer, der durch seinen leuchtend-orangenen Pullover und seine besonders engagierten Wortbeiträge auffällt. "Außerdem kann man auch mit wenig Geld am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – zum Beispiel, in dem man in die Bibliothek geht und dort im Lesesaal etwas liest", ergänzt er und schaut zur Bekräftigung nachdrücklich in die Runde.
Das Selbstwertgefühl nimmt ab
Die Gesprächsmoderation hat Roland Hohenstein übernommen, der sich schon seit Jahren ehrenamtlich bei den Kompasstreffen engagiert. Der Rentner war in seinem Berufsleben lange als Betriebsrat engagiert. Mit den Themen Arbeit und Arbeitslosigkeit kennt er sich aus. Hohenstein schreibt sich die Reihenfolge der Redebeiträge auf und ruft die Diskussionsteilnehmer nacheinander auf. Wenn sich die Männer gegenseitig ins Wort fallen, mahnt er sie, sich gegenseitig ausreden zu lassen. Und das muss er im Laufe des Morgens einige Male und mit Nachdruck tun. Denn obwohl den meisten das Bemühen um eine gute Gesprächsatmosphäre und eine respektvolle Behandlung anzumerken ist, geht es manchmal doch Durcheinander.
Auch Thorsten Deml schaltet sich in die Diskussion ein. Ihm ist beim Thema "Einsamkeit" neben der gesellschaftlichen Teilhabe noch ein anderer Aspekt wichtig: die persönlichen Kontakte. "Arbeitslosigkeit verändert ja auch den Freundeskreis", sagt er trocken. Zu Beginn seiner Geldknappheit hätten ihm seine Freunde abends beim Bowling halt öfters mal ein Bier ausgegeben. Für sie war das kein Problem, wohl aber für Deml: "Ich habe mich irgendwann zurückgezogen, weil es mir auf Dauer einfach zu peinlich war. Da kommt einem plötzlich der Gedanke, dass man sich fühlt wie ein Aussätziger", erklärt er und resümiert: "Durch die Arbeitslosigkeit nimmt einfach das ganze Selbstwertgefühl ab".
Bei Deml, einem trotz seiner 54 Jahre jungenhaft wirkenden Mann mit schwarzen Haaren, schwarzer Kleidung und bunten Halsketten aus Holz, waren es mehrere Faktoren, die ihn in die Arbeitslosigkeit abrutschen ließen. Rund 25 Jahre hatte er als Mediengestalter gearbeitet, zuletzt beim "Darmstädter Echo". Dann kamen die Medien- und die Arbeitsmarktkrise. Ein Kollege nach dem anderen musste gehen, schließlich war auch Demls Job weg.
Vier Jahre auf den Philippinen
Doch das eröffnete ihm zunächst neue Perspektiven: Vier Jahre arbeitet er auf den Philippinen. Zusammen mit einem Bekannten, der Surflehrer ist, macht er sich selbständig. Deml gestaltet die Homepage der Surfschule und übernimmt das Organisatorische. 2010 kommt er jedoch zurück, muss wegen einer Trombose ins Krankenhaus. Dort kommt dann die Diagnose: Nierenkrebs. Der läuft bisher zwar glimpflich ab: keine Metastasen, keine Folgeerkrankungen. Aber einen festen Job hat Deml seitdem nicht mehr gefunden.
In Bezug auf das Diskussionsthema des Morgens stimmt er der Analyse von Hermann Grundei zu, der beim Frühstück zwei Plätze weiter sitzt. "Einsamkeit ist für mich nicht das Entscheidende", sagt der. "Aber es gibt depressive Phasen, in denen ich unzufrieden bin und keine wirklichen Lösungsansätze habe". In solchen Situationen, so Grundei, flüchte er sich in seine Bücher, besonders gern liest er Sachliteratur, psychologische oder philosophische Werke.
Seine Geschichte ähnelt der von Thorsten Deml. Auch Grundei wirkt jungenhaft: Mit der Jeans, dem blauen Hemd, der Krawatte und dem lässigen blauen Sweater würde man nicht auf die Idee kommen, dass er schon über 60 Jahre alt ist. Nur wenn er aufsteht, zeigt sich, dass dem Mann, der vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitt, das Gehen etwas schwer fällt.
"Ich dachte: Du kriegst schon noch was"
Vor knapp zehn Jahren hatte sich der gelernte Bilanzbuchhalter mit seiner damaligen Lebensgefährtin selbständig gemacht. Doch aus dem beruflichen Projekt wurde nichts: die Frau erkrankte an Krebs. Daraufhin hielt sich Grundei eine Weile mit Zeitverträgen über Wasser, woraus sich schließlich sogar ein festes Jobangebot ergab, wie er erzählt: Grundei hätte in einem Unternehmen in der Kostenrechnung anfangen können. Doch er schlug den Job aus. Die Personalsituation, die er kennengelernt hatte, empfand er als unglücklich. "Ich saß damals mit meinen 55 Jahren etwas auf dem hohen Ross und dachte: Du kriegst schon noch was", erzählt er. Stattdessen folgten weitere Phasen von Arbeitslosigkeit, inzwischen lebt er nach eigenen Angaben von seiner Rente.
Doch dem Kompass-Treff ist er treu geblieben. Die Runde in der St. Fidelis-Pfarrei spricht inzwischen über ein anderes Thema, das aber indirekt auch etwas aussagt über die Frage nach der Einsamkeit. Nicht nur der Mann im orangenen Pullover, sondern auch viele andere fordern mit Nachdruck, der Frühstückstreff solle wieder wöchentlich stattfinden - so wie früher. Das ehrenamtliche Team hält sich bedeckt, es ist in den vergangenen Jahren nicht gerade gewachsen. So oder so zeigt die Diskussion, wie wichtig den Arbeitslosen das gemeinsame Treffen ist: "Für sie ist das hier ein Stück Heimat", weiß Schumacher. "Da kommen sie unter Leute, die in der gleichen Situation sind und können sich ganz frei bewegen".