Der Leidensweg der Mutter
Viele Christen beten dieser Tage den Kreuzweg – vor allem am Karfreitag. Er führt in traditionell 14 Stationen von der Verurteilung Jesu bis zur Kreuzigung auf Golgota und endet mit der Grablegung Christi. Die Gläubigen schreiten die einzelnen Stationen in meditativem Gebet ab und vollziehen auf diese Weise den Leidensweg des Gottessohnes nach. Weniger bekannt sein dürfte jedoch, dass der Kreuzweg – lateinisch "Via Crucis" – ein marianisches Pendant hat: die "Via Matris", der "Weg der Mutter".
Dass die Gottesmutter Maria Jesus auf seinem Leidensweg begleitete, erwähnt die Bibel zwar nicht explizit – lediglich ihre Anwesenheit unter dem Kreuz wird an einer Stelle genannt (Joh 19,25); es ist jedoch kaum vorstellbar, dass sie ihren Sohn auf seinem letzten Weg alleine gelassen hat. Deshalb sieht die Kirche Maria traditionell als Begleiterin Jesu bei der Passion an. Das hat sich unter anderem im klassischen Kreuzweg niedergeschlagen, bei dem zwei Stationen ausdrücklich auf die Gottesmutter bezogen sind: "Jesus begegnet seiner Mutter" (Station 4) sowie "Jesus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt" (Station 13, vgl. Gotteslob Nr. 683).
Dem Mitleiden Marias hat die Kirche darüber hinaus einen eigenen Gedenktag gewidmet: Am 15. September feiert sie das Gedächtnis der (sieben) Schmerzen Mariens. Der liturgische Gedenktag folgt unmittelbar auf das Fest Kreuzerhöhung am 14. September und steht somit in innerer Beziehung zum Passionsgeschehen. Gleichwohl stehen nicht alle der sieben Schmerzen im direkten Zusammenhang mit dem Leiden und Sterben Christi. Vielmehr geht es hier um die lebenslange Sorge Marias um ihren Sohn Jesus, beginnend im Säuglingsalter.
Den Schmerzen Mariens sind heute zahlreiche Gotteshäuser (Sieben-Schmerzen-Kirchen) geweiht. Außerdem wurden unter der Bezeichnung "Via Matris" Stationenwege geschaffen, die die Schmerzen der Gottesmutter in Bildern oder Stelen künstlerisch darstellen. Wie beim Kreuzweg können die Gläubigen sie betend und meditierend abschreiten. Das sind die sieben Stationen der Via Matris mit entsprechenden Bibelstellen:
1. Die Weissagung Simeons (bei der "Darstellung" des Säuglings Jesus im Tempel):
"Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen." (Lk 2,34f)
2. Die Flucht nach Ägypten vor dem Kindermörder Herodes:
"Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten." (Mt 2,13f)
3. Der Verlust des zwölfjährigen Jesus im Tempel:
"Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten ... Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen … Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht." (Lk 2,43-48)
4. Jesus begegnet seiner Mutter auf dem Weg nach Golgota (auch Station 4 des Kreuzwegs; wird in der Bibel nicht explizit erwähnt).
5. Das Ausharren unter dem Kreuz Jesu:
"Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala." (Joh 19,25)
6. Die Kreuzabnahme Jesu (auch Station 13 des Kreuzwegs):
"Er [Josef von Arimathäa] ging zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Da befahl Pilatus, ihm den Leichnam zu überlassen. Josef nahm ihn und hüllte ihn in ein reines Leinentuch." (Mt 27,57ff)
7. Die Grablegung Christi (auch Station 14 des Kreuzwegs):
"An dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten, und in dem Garten war ein neues Grab, in dem noch niemand bestattet worden war. Wegen des Rüsttages der Juden und weil das Grab in der Nähe lag, setzten sie Jesus dort bei." (Joh 19,41f)
Über die Via Matris hinaus wurde das Mitleiden Marias mit ihrem Sohn auf verschiedene Weise künstlerisch verarbeitet. Eines der bekanntesten christlichen Bildmotive überhaupt ist die "Pietà": Nach der Kreuzabnahme hält Maria den Leichnam ihres Sohnes in den Armen; diese Darstellung ist in den meisten Kirchen zu finden. Die christliche Ikonographie stellt die Gottesmutter außerdem als "Mater Dolorosa" ("Schmerzensreiche Mutter") dar; bekannt ist dabei vor allem das Bildmotiv, bei dem der Gottesmutter ein Schwert durch die Brust dringt (bzw. sieben Schwerter) – in Anlehnung an die Prophezeiung Simeons.
Schließlich hat auch das mittelalterliche Gedicht "Stabat Mater" ("Es stand die Mutter") die Leiden Marias bei der Kreuzigung zum zentralen Inhalt. Als Hymnus hat es Eingang in die Liturgie gefunden und wird traditionell zum Gedenktag der Schmerzen Mariens am 15. September gesungen oder gebetet; ebenso ist das "Stabat Mater" jedes Jahr Teil des Kreuzwegs mit dem Papst am Karfreitag in Rom. Die bekannteste deutsche Übertragung des Hymnus stammt von Heinrich Bone aus dem Jahr 1847: das Lied "Christi Mutter stand mit Schmerzen" (Gotteslob Nr. 532), das häufig auch an den Kartagen – etwa als Zwischengesang bei der Kreuzwegandacht – gesungen wird.