Über die aktuellen Ausschreitungen in Israel und Palästina

Der Nahe Osten kommt nicht zur Ruhe

Veröffentlicht am 09.10.2015 um 12:15 Uhr – Von Julia-Maria Lauer – Lesedauer: 
Konflikte

Bonn/Jerusalem ‐ Seit Tagen spitzt sich die Situation im Nahen Osten dramatisch zu. Vermehrt kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Dabei geht es auch um interne Machtkämpfe zwischen Fatah und Hamas.

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Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach davon, dass sich sein Land auf dem "Höhepunkt einer Terrorwelle" befinde. Um die Lage zu beruhigen, wies er die Polizei an, israelische Regierungsmitglieder und Parlamentsabgeordnete daran zu hindern, den Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem zu betreten.

Bereits in der vergangenen Woche war es zu mehreren Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern gekommen. Im Westjordanland wurde ein israelisches Siedlerpaar vor den Augen seiner vier Kinder erschossen. Daraufhin protestierten jüdische Siedler in arabischen Dörfern. Sie zündeten Autos an und beschmierten Fahrzeuge mit Mordforderungen. Wie andere Vergeltungsaktionen der Siedlerbewegung trug dieser Protest gegen die palästinensischen Attentate den Namen "Price Tag" (Preisschild).

Die Liste der Vorfälle ließe sich beliebig fortsetzen. Gerade der Tempelberg steht dabei immer wieder im Mittelpunkt der Streitigkeiten. Denn er gilt vor allem Juden und Muslimen als heilige Stätte. Fromme Juden beten an der Klagemauer, der für sie als Überrest des jüdischen Tempels eine besondere Bedeutung hat. Für Muslime dagegen ist der Tempelberg der Ort, an dem der Prophet Mohammed in den Himmel aufgefahren ist. Regelmäßig führen diese unterschiedlichen Ansprüche zu Streit. Besonders an hohen jüdischen Feiertagen wie dem Neujahrsfest, Rosch ha-Schanah, oder dem Laubhüttenfest Sukkot kommt es zu Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nach der Parlamentswahl am 22. Januar 2013.
Bild: ©picture alliance / Photoshot

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte Abgeordneten des Parlamentes den Besuch des Tempelberges in Jerusalem untersagt.

Der Priester Markus Bugnyar leitet seit über zehn Jahren eine Pilgerherberge in Jerusalem. Er sieht die aktuellen Auseinandersetzungen in einem größeren Kontext: "Ich denke, die momentanen Probleme liegen auf einer Linie mit den Gewaltausbrüchen seit April 2014." Im vergangenen Jahr war es zu Unruhen und gewaltsamen Ausschreitungen gekommen, nachdem Palästinenserpräsident Mahmud Abbas mit der Oppositionspartei Hamas einen Versöhnungspakt geschlossen und eine Einheitsregierung eingegangen war. Die Verhandlungen zwischen den beiden großen palästinensischen Parteien waren bald darauf ins Stocken gekommen. "Es geht noch immer um einen Machtkampf zwischen Fatah und Hamas", erklärte der Herbergsleiter. Denn beide Seiten wollten ihre Einflusszonen im Land vergrößern.

Extremistische Gruppierungen gießen Öl ins Feuer

Nachdem ein Fatah-Anhänger vor wenigen Tagen in der Gegend von Nablus im Westjordanland in der israelischen Siedlung Itamar einen Anschlag verübt hatte, sei es fast nicht mehr überraschend, dass es weiterhin zu Ausschreitungen kommt, erläuterte Bugnyar. Die Hamas habe nachziehen müssen, um internationale Aufmerksamkeit für "die arabische Sache" zu erregen. Dabei seien es stets einige extremistische Gruppierungen, die Interesse daran hätten, weiter Öl ins Feuer zu gießen. "Wenn es zu einem neuen palästinensischen Volksaufstand kommen sollte, dann weil es diese Agitatoren gibt", ist sich Bugnyar sicher.

Ob Abbas in der vergangenen Woche tatsächlich die Friedensverträge mit Israel aufgekündigt hat oder ob es sich nur um eine Drohung handelt, ist nach Ansicht Bugnyars unklar. Die Rede des Palästinenserpräsidenten vor der UN-Vollversammlung in New York sei zu unterschiedlich interpretiert worden: Von Teilen der palästinensischen Bevölkerung habe er Zustimmung für seine Kritik an Israels Vorgehen auf dem Tempelberg erhalten, andere hätten kritisiert, dem Fatah-Politiker gehe es letztlich nur um Erhalt und Ausbau seiner eigenen Machtposition. An eine dritte Intifada glaubt der Priester aber nicht.

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Video: © katholisch.de

Der deutsche Benediktiner Nikodemus Schnabel lebt, betet und arbeitet im völkerrechtlichen Niemandsland mitten in Jerusalem – eine politische und religiöse Herausforderung. Über seine Erfahrungen hat er nun ein Buch geschrieben.

Seit Israels Staatsgründung 1948, die mit Flucht und Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern einherging, ist es bereits zweimal zu Aufständen der palästinensischen Bevölkerung gekommen. Ziel beider Erhebungen war das "Abschütteln" der israelischen Besatzungsmacht (Arabisch: Intifada). Anlass für die erste Intifada war der Zusammenstoß eines israelischen Militärfahrzeuges mit zwei arabischen Taxis. Von den Palästinensern wurde dieser als Racheakt für einen kurz vorher im Gaza-Streifen erstochenen Israeli interpretiert. Die Wut der arabischen Bevölkerung richtete sich deshalb vor allem gegen das israelische Militär; es kam zu Massendemonstrationen und Ausschreitungen.

Ein zweites Aufbegehren der Volksmassen fand im Jahr 2000 anlässlich des Besuches von Ariel Sharon, dem damaligen Parteichef der konservativen israelischen Likud-Partei, auf dem Tempelberg in Jerusalem statt. Der zunächst friedlich ablaufende Besuch mit nur wenigen Kundgebungen von palästinensischer Seite zog am nächsten Tag gewalttätige Ausschreitungen nach sich. Über Jahre hinweg kam es daraufhin zu Raketenbeschuss und Selbstmordattentaten von arabischer Seite, während Israel mit militärischen Vergeltungsaktionen antwortete. Erst 2005 wurde die Zweite Intifada mit dem Abschluss eines Waffenstillstandes offiziell beendet.

Von Julia-Maria Lauer