"Deutschland ist kein Experimentierfeld"
Frage: Herr Lammert, was fällt Ihnen spontan beim Wort "Katholikentag" ein?
Lammert: Viele gute Begegnungen bei vielen solchen Veranstaltungen. Ich besuche seit langem regelmäßig Katholiken- und Kirchentage - in den vergangenen Jahren meist in Verbindung mit Auftritten bei Foren, Morgenandachten und Bibelarbeiten. Von daher sind mir diese Veranstaltungen sehr vertraut.
Frage: Hochrangige Politiker gehören regelmäßig zu den Gästen der Katholikentage. Welche politische Bedeutung haben Katholikentage?
Lammert: Katholikentage sind keine politischen Veranstaltungen, und man würde sie missverstehen, wenn man sie nur oder vorrangig unter politischen Gesichtspunkten beurteilen würde. Trotzdem haben neben den rein spirituellen Impulsen auch die Debatten über aktuelle politische Fragen dort stets eine wichtige Rolle gespielt. Katholikentage erzeugen nicht die Themen, und die dort stattfindenden Diskussionen haben auch keine unmittelbaren politischen Auswirkungen. Aber sie sind ein wichtiger Teil der öffentlichen Meinungsbildung und tragen zum Bewusstmachen politischer Fragestellungen in der Öffentlichkeit bei.
Frage: 2012, beim Mannheimer Katholikentag, sind sie hart mit der katholischen Kirche ins Gericht gegangen. Statt Aufbruch regiere Stagnation, und Dogmatik habe Vorrang vor der Seelsorge, sagten Sie bei einer Veranstaltung zum 50-Jahr-Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils. Gilt das immer noch?
Lammert: Mit dem neuen Pontifikat verbinden sich auch bei Deutschlands Katholiken große Hoffnungen und Erwartungen, die durch die Familiensynode im vergangenen Herbst auch in einem wichtigen Teilbereich konkretisiert wurden. Allerdings sind bislang die Erwartungen ausgeprägter als die tatsächlichen Veränderungen, und man wird abwarten müssen, in welcher Weise der Papst die Befunde der Synode umsetzt. Wird er die örtlichen Bischofskonferenzen darin bestärken, von ihren Kompetenzen mutiger Gebrauch zu machen? An Möglichkeiten hierzu - das habe ich bereits in Mannheim gesagt - mangelt es nach meinem kirchenrechtlichen Verständnis nicht, wohl aber am nötigen Mut. Das gilt in meinen Augen auch für das Thema Ökumene, das sicher beim Katholikentag in Leipzig eine wichtige Rolle spielen wird. Ein Jahr vor dem großen Reformationsjubiläum müssen Katholiken und Protestanten jeweils für sich die Frage beantworten, ob das, was es an Unterschieden gibt, wirklich die Aufrechterhaltung der Spaltung rechtfertigt.
„Mein Glaube ist ein selbstverständlicher Teil meiner Persönlichkeit und ich weiß nicht, ob ich ohne diesen Glauben und die damit verbundenen Orientierungsmaßstäbe überhaupt die politische Laufbahn eingeschlagen hätte.“
Frage: Woher rührt Ihre eigene Glaubensbeziehung?
Lammert: Meine Glaubensbeziehung ist, wie wohl bei den meisten religiös gebundenen Menschen, aus der Familie heraus erwachsen und hat sich durch die aktive Mitarbeit in der Kirchengemeinde vor Ort gefestigt. Und glücklicherweise ist sie mir über all die Jahre hinaus erhalten geblieben.
Frage: Wie stark lassen Sie sich in Ihrem politischen Handeln von Ihrem Glauben leiten?
Lammert: Mein Glaube ist ein selbstverständlicher Teil meiner Persönlichkeit und ich weiß nicht, ob ich ohne diesen Glauben und die damit verbundenen Orientierungsmaßstäbe überhaupt die politische Laufbahn eingeschlagen hätte. Was nun die konkreten politischen Entscheidungen betrifft, so kann der Glaube in der Regel nicht entscheidend sein. Allerdings haben wir es in jüngster Zeit immer häufiger mit Fragen zu tun, die auch eine hohe ethische Bedeutung haben. Ich denke da vor allem an Themen wie die Genforschung, die Präimplantationsdiagnostik oder all die Fragen, die das Lebensende betreffen. Hier genügt es nicht, wissenschaftlich-pragmatisch zu antworten. Hier muss man auch ethische Kriterien in die Entscheidungsfindung einbeziehen.
Frage: Gibt es da Entscheidungen, bei denen der Katholik Lammert mit dem Politiker Lammert über Kreuz liegt?
Lammert: Das eine lässt sich vom anderen ja nicht trennen, so dass in eine solche Entscheidungsfindung die unterschiedlichsten Erfahrungen und Prägungen einfließen. Und oft ist es so, dass mir eine Entscheidung, die auf den ersten Blick auf der Hand zu liegen schien, immer schwerer fällt, je länger ich mich mit dem Thema beschäftige. Und manchmal komme ich dann auch zu einem Schluss, der Vertreter der Kirche gegen mich aufbringt, weil sie meinen, dass der Katholik Lammert da doch anders hätte entscheiden müssen. So habe ich mir etwa in der Frage der Stammzellforschung die Kritik einiger Bischöfe eingehandelt, weil ich auch Positionen für ethisch vertretbar hielt, die nicht der von der katholischen Kirche vertretenen Linie entsprachen.
Frage: Ist nicht auch die Flüchtlingskrise so ein Konfliktthema? Während die Kirchen nach wie vor die soziale Verantwortung gegenüber den Hilfesuchenden in den Vordergrund stellen, fordern immer mehr Politiker einen Kurswechsel...
Lammert: Natürlich gehört die Herausforderung der Flüchtlingsströme zu den politischen Fragen mit hoher ethischer Relevanz, und ein überzeugter Christ kann sich zu diesem Thema nicht indifferent verhalten. Umgekehrt ist aber auch klar, dass sich das politische Problem nicht allein aus einem humanitären Geist heraus löst lässt. Bei aller Solidarität muss es erlaubt sein, nach Größenordnungen, Aufnahmekapazitäten und Möglichkeiten der Integration zu fragen. Plakative, scheinbar einfache Antworten führen bei dieser komplexen Problematik nicht zum Ziel.
Frage: Wie nehmen Sie die Stimmung in der Bevölkerung wahr? Markieren die Ereignisse der Kölner Silvesternacht einen Wendepunkt?
Lammert: Die Ereignisse dieser Nacht haben sicher die in weiten Teilen der Bevölkerung vorhandene Besorgnis verstärkt, ob und wie wir die Herausforderungen der Flüchtlingskrise meistern. Insofern muss man das Geschehene sehr ernst nehmen. Doch auch hier gilt: Es wäre falsch die gesamte Problematik von nun an nur noch im Licht jener Ereignisse wahrzunehmen!
Frage: Ein überwiegender Teil der Asylsuchenden ist muslimischen Glaubens. Was bedeutet das für unsere immer säkularer werdende Gesellschaft?
Lammert: Richtig ist, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge und Asylbewerber aus islamisch geprägten Ländern kommt. Für diese gilt aber dasselbe wie für die Christen hierzulande: Nicht jeder, der formell einer Religionsgemeinschaft angehört, hat auch ein aktives oder gar offensives Verhältnis zu dieser Gemeinschaft. Ich finde es einigermaßen erstaunlich, dass ausgerechnet in den Regionen Deutschlands, in denen der Anteil kirchlich gebundener Menschen besonders niedrig ist, die größte Furcht vor einer angeblich drohenden Islamisierung des "christlichen Abendlandes" zum Ausdruck gebracht wird. Und besonders ärgerlich ist, dass viele Menschen dort von den Einwanderern kulturelle Orientierungen einfordern, die sie selbst in der Art der Auseinandersetzung schmerzlich vermissen lassen.
„Wer nach Deutschland kommt, weil er sich hier ein besseres Leben erhofft, von dem können wir erwarten, dass er sich an die Spielregeln hält, die hier gelten.“
Frage: Aber haben diese Ängste nicht doch einen wahren Kern? Können wir all diese Menschen integrieren, die größtenteils aus einem anderen Kulturkreis stammen und ganz andere Wertvorstellungen mitbringen?
Lammert: Deutschland ist kein Experimentierfeld für alternative Gesellschaftsformen. Wer zu uns kommt, muss wissen, welche Regeln und Werte hier gelten. Der Verweis auf andere Traditionen und kulturelle Hintergründe darf kein Rechtfertigungsgrund sein, diese Regeln zu unterlaufen, ganz egal ob es um das Thema sexuelle Selbstbestimmung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Frage der Toleranz gegenüber anderen politischen und religiösen Überzeugungen geht. In Deutschland gilt das Grundgesetz und das, was wir darin für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft vereinbart haben.
Frage: Aber wie realistisch ist es, dass wir all diese Menschen wirklich in unsere Gesellschaft integrieren?
Lammert: Natürlich kann ich mir gut vorstellen, dass es für einen 21-jährigen Moslem geradezu unvorstellbar ist, dass ihn eine Polizistin erkennungsdienstlich behandelt, dass ihn eine Helferin mit Kleidung versorgt und eine Lehrerin ihm Deutsch beibringt. Aber das darf kein Grund sein, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Deutschland in Frage zu stellen. Wer nach Deutschland kommt, weil er sich hier ein besseres Leben erhofft, von dem können wir erwarten, dass er sich an die Spielregeln hält, die hier gelten. Und das müssen wir jederzeit unmissverständlich klarmachen.
Frage: Erwarten Sie sich vom Katholikentag Denkanstöße zu dieser Thematik?
Lammert: Das Thema Flüchtlinge wird mit Sicherheit eine wichtige Rolle bei den Foren, Vorträgen und in den Gottesdiensten auf dem Katholikentag spielen. Ob sich aus der Diskussion neben der Bestärkung vorhandener Denkansätze auch neue Ideen und Anregungen ergeben, bleibt abzuwarten.