Priester berichtet über katastrophale Lage der indischen Gläubigen

"Die Gewalt gegen Christen hat sich verdreifacht"

Veröffentlicht am 23.08.2018 um 13:26 Uhr – Lesedauer: 
Christenverfolgung

Bonn/Delhi ‐ Vor zehn Jahren fand in Indien die größte hindu-nationalistische Gewaltwelle gegen Christen statt. Die Mehrzahl der Opfer wartet noch immer auf Wiedergutmachung. Und die Gewalt gegen Christen nimmt derzeit wieder massiv zu. Ein Interview.

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Indien steht nach Ansicht des katholischen Priesters und Menschenrechtlers Ajaya Kumar Singh an einem Scheideweg. Noch sieht der indische Aktivist die Chance, dass die größte Demokratie der Welt zu ihren pluralistischen und säkularen Wurzeln zurückfindet. Doch die Gewalt gegen Christen und andere Minderheiten nehme zu – und verlaufe noch immer entlang des indischen Kastensystems.

Frage: Pfarrer Singh, in diesen Tagen jährt sich die antichristliche Gewalt im Bundesstaat Odisha zum zehnten Mal. Wie geht es den Christen Indiens heute?

Singh: Die Gewalt gegen Christen hat sich in den vergangenen vier Jahren noch einmal verdreifacht. Die Regierung geht zunehmend gegen religiöse Minderheiten vor. Besonders zu spüren bekommen das die Menschen aus den untersten Kasten, die sogenannten Dalit, also die Unberührbaren, und die indigenen Adivasi. Von den Unberührbaren sind rund 70 Prozent Christen. Menschen aus dieser Kaste ist politische Teilhabe aber weitestgehend verwehrt, obwohl Dalits und die Indigenen Adivasi zusammen ein Viertel der indischen Bevölkerung ausmachen. Die kontinuierliche Gewalt gegen diese Minderheiten wird zudem selten strafrechtlich verfolgt: Gerade einmal fünf Prozent der Übergriffe werden geahndet.

Frage: Die Opfer der antichristlichen Gewalt von 2008 warten seit zehn Jahren auf Gerechtigkeit.

Singh: Auch diese Christen gehörten der Minderheit der Dalits und Adivasi an. Im Bezirk Kandhamal wurden über 100 Menschen getötet, 6.500 Häuser und 393 Kirchen zerstört, 56.000 Menschen mussten aus der Region fliehen. Die Regierung hat es bislang versäumt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Mit dem Odisha Center for Social Action (OROSA) wollen wir die Behörden unter Druck setzen, damit die Betroffenen neue Häuser oder eine Entschädigung bekommen. Das Zentrum wurde auf Initiative der Katholischen Bischofskonferenz von Odisha gegründet und setzt sich insbesondere für die Rechte von Minderheiten ein. Wir versuchen, 315 Fälle von Menschenrechtsverletzungen aus dem Jahr 2008 erneut vor Gericht zu bringen.

Frage: Die Christen in Indien werden also vorwiegend dann angegriffen, wenn sie der untersten Kaste angehören. Gilt das Kastensystem denn auch für Christen in Indien?

Singh: Sagen wir, dass sich das Kastensystem auch in der katholischen Kirche Indiens nicht aufgelöst hat. Christen höherer Kasten haben weniger Probleme und manchmal auch kein Problembewusstsein, dass die Christen aus den unteren Kasten, also die Dalits, die Adivasi und auch Frauen Repressalien ausgesetzt sind. Viele Christen dieser Kasten behaupten auch, sie seien Hindus, um sich zu schützen. Die Diskriminierung geht dabei zum einen vom Staat aus, zunehmend aber auch von der Zivilbevölkerung.

Frage: Für weltweite Schlagzeilen sorgte jüngst auch die Festnahme einer Mutter-Teresa-Schwester und einer Laienmitarbeiterin in Indien, die angeblich Babys an kinderlose Paare verkauft haben sollen. Was halten Sie davon?

Singh: Die Mutter-Teresa-Schwestern leisten wertvolle soziale Arbeit. Anstatt dass die Regierung das anerkennt und wertschätzt, schüchtert sie die Schwestern ein und schikaniert sie. Wenn christliche Organisationen gegen Regeln verstoßen, dann gibt es juristische Wege, das zu klären. Stattdessen hetzt die Regierung den Schwestern Anti-Terror-Einheiten auf den Hals. Das sind massive Schikanen – mittlerweile gegen christliche Institutionen im ganzen Land. Das sorgt für viel Angst und Verunsicherung in den christlichen Gemeinschaften.

Bild: ©Missio Aachen

Der katholische Priester und Menschenrechtler Ajaya Kumar Singh.

Frage: Gibt es denn von Seiten der Hindus in Indien auch Solidarität mit den Christen im Land?

Singh: Definitiv! In Delhi und Kandhamal kommen dieser Tage viele Hindus zu uns, um uns ihre Solidarität und Anteilnahme wegen der Übergriffe vor zehn Jahren zu zeigen. Aber es bleibt eine Herausforderung. Es herrscht zurzeit große Angst und Unsicherheit bei allen Indern, was die Religions- und Meinungsfreiheit angeht – auch die Hindus sind nicht sicher und können ihre Meinung nicht frei äußern. Umso härter ist die Lage für Christen, Adivasi und Unberührbare.

Frage: Wie sehen Sie die Zukunft der Christen angesichts der wachsenden Probleme?

Singh: Nicht nur religiöse Minderheiten, sondern das ganze Land erlebt gerade eine Notsituation. Sollte der indische Präsident Narendra Modi von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) im kommenden Jahr wiedergewählt werden, wird die Lage katastrophal: Dann stehen die Menschenrechte und die Würde der Minderheiten Indiens auf dem Spiel. Es gibt nur eine Zukunft mit einer alternativen Regierung. Deshalb erleben wir gerade eine sehr kritische Phase. Die Wahl wird entscheiden, ob Indien zu einem faschistischen, fanatischen Staat wird, der seine eigenen demokratischen Institutionen zerstört, die bereits zu erodieren begonnen haben. Oder ob Indien den Weg zurück zu einer demokratischen und sozialen Republik schafft.

Frage: Wen würden denn die Christen Indiens wählen?

Singh: Christen in Indien haben nicht wirklich einen bestimmten Kandidaten, den sie wählen. Auch stellt sich die Kirche Indiens nicht hinter eine bestimmte Partei. Aber wir stehen hinter demokratischen, sozialen und säkularen Werten. Wir glauben an Menschenrechte, Menschenwürde und den Respekt vor religiösen Minderheiten sowie vor verletzlichen Gruppen. Wir versprechen, diesen Gruppen zur Seite zu stehen und sie zu schützen.

Frage: Steht die Kirche da geschlossen da?

Singh: Die Kirche sollte ihre Stimme erheben und sich geschlossen positionieren. Leider bleibt es eine Herausforderung, das umzusetzen. Denn unsere Kirche in Indien teilt sich in verschiedene Lager. In manchen Landesteilen verstehen die Katholiken nicht die Probleme der unterdrückten Gruppen. Wenn sie dafür kein Verständnis entwickeln, wird die Spaltung der Kirche größer und das spielt den fanatischen Kräften in die Hände, die die Angst vor diesen Minderheiten schüren.

Frage: Wünschen Sie sich vom Vatikan mehr Unterstützung für die Christen in Indien?

Singh: Nicht nur vom Vatikan, sondern von allen christlichen Gemeinschaften weltweit. Sie sind aufgerufen, sich für die Rechte von Dalits, Adivasi und religiösen Minderheiten insgesamt auszusprechen. Der Vatikan hat seine eigene Rolle als Vermittler in der Welt und steht für Religionsfreiheit, die Rechte und Würde religiöser Minderheiten. Wir Christen in Indien freuen uns über jegliche Stellungnahme und Solidarisierung durch den Vatikan – Politiker anderer Staaten sind ja meist auf Länder fixiert, die Geld, Macht und Ressourcen haben. Deshalb ist es wichtig, dass der Vatikan seine Rolle als Vermittler und Katalysator für Veränderung wahrnimmt.

Von Claudia Zeisel