Die Kirchen schrumpfen, werden aber nicht leerer
Über die Ursachen für die neuerliche Austrittswelle wird noch spekuliert. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sie auch die evangelischen Landeskirchen mit großer Wucht trifft. Deren Austrittszahlen sind noch nicht bekannt, doch die Gesamtzahl der Protestanten hat laut Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) um mehr als 400.000 abgenommen, während die Gesamtzahl der Katholiken um rund 230.000 zurückging. Auch wenn hier noch Zu- und Wegzüge, Taufen und Beerdigungen mit einberechnet werden müssen, deutet doch vieles auf eine noch höhere Zahl von Austritten hin.
Aus den katholischen Bistümern ist zu hören, 2014 sei ein ungewöhnlicher "Austritts-Jahrgang": Neben dem üblichen steuerbedingten Höhepunkt im Dezember gab es gleich zwei weitere "Spitzen". Die eine lag im März. Das war der Monat, in dem das Drama um den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst seinem Höhepunkt zusteuerte. Die andere Spitze lag offenbar im Oktober. Sie entwickelte sich nach dem Bekanntwerden eines neuen Kirchensteuer-Einzugsverfahrens auf Vermögenserträge, das von manchen Beitragszahlern subjektiv als drohende zusätzliche Steuerlast empfunden wurde.
Nachlassende Kirchenbindung befördert Austritte
Das ungewöhnliche Zusammentreffen von zwei "Negativ-Wellen" in einem Jahr reicht freilich nicht aus, um das hohe Niveau der Austritte zu erklären. Religionssoziologen sprechen von einer generell nachlassenden Kirchenbindung. Eine Umfrage des Bistums Münster hatte bereits 2014 ergeben, dass dort rund ein Fünftel aller Katholiken "austrittsgefährdet" sei. Ihre generelle Zufriedenheit mit der Kirche lag lediglich im mittleren Bereich - für eine starke Identifikation der Gläubigen mit ihrer Kirche ist das zu wenig. Entsprechend anfällig sind die persönlichen Bindungen. Umso stärker ist dann der Einfluss allgemeiner Stimmungen, die über die Medien verstärkt werden.
Die letzten Jahre mit weniger als 100.000 Austritten liegen nun schon fast ein Jahrzehnt zurück: Es war die Zeitspanne von 2005 bis 2007, als der deutsche Papst Benedikt XVI. (2005-2013) in seiner Heimat noch bejubelt wurde und das Image der Kirche neuen Glanz zu bekommen schien. Die Frage, ob der Negativ-Rekord von 2014 einen neuen mittelfristigen Trend einleitet, kann noch nicht schlüssig beantwortet werden. Es ist unklar, ob der "Franziskus-Effekt" sich auf die Austrittszahlen auswirken wird. Denn der charismatische Papst mobilisiert Zustimmung auch von Menschen jenseits der Institution Kirche. Wer aus der Kirche austritt, könnte dies subjektiv sogar durchaus mit einer Bewunderung für Papst Franziskus in Einklang bringen.
Hoffnungsvolle Zahlen bei Gottesdienstbesuchen und Sakramenten
Erstaunlich bleibt auf lange Sicht das vergleichsweise sanfte Abschmelzen der Katholikenzahl in Deutschland. Während die Gliedkirchen der EKD seit der Wiedervereinigung 6,4 Millionen Mitglieder verloren haben und nun bei 22,6 Millionen liegen, ging die Zahl der Katholiken nach der Wiedervereinigung lediglich um 4,3 auf 23,9 Millionen zurück. Ein Grund dafür könnte der Zuzug von katholischen Migranten sein: Während in den 1950er Jahren die katholische Kirche in Westdeutschland stark vom Zuzug katholischer Schlesier profitierte, sind es seit einem Vierteljahrhundert die eingewanderten Katholiken aus Ost- und Südeuropa, die zumindest teilweise die Reihen wieder auffüllen.
Bemerkenswert an der jüngsten Statistik sind neben den Austritten einige andere Indikatoren: So ist der Anteil der sonntäglichen Gottesdienstbesucher unter den verbliebenen Katholiken nach Jahrzehnten eines starken Rückgangs erstmals wieder leicht gestiegen. Ähnliches gilt für die Zahl der Erstkommunionen und Eheschließungen. Sollte sich dies in den kommenden Jahren zu einem Trend verdichten, läge die Deutung nahe, dass die Kirche zwar an ihren Rändern weiterhin viele sogenannte Taufschein-Christen verliert, gleichzeitig aber in ihrem Kern der Anteil der "praktizierenden Katholiken" wächst. Auch in evangelischen Landeskirchen ist seit einiger Zeit ein ähnlicher Trend zu beobachten.