Der Syrer Joan lebt im Kirchenasyl in Bayern - wir haben ihn besucht

Die letzte Chance auf ein Leben in Würde

Veröffentlicht am 18.05.2015 um 00:00 Uhr – Von Michael Kniess – Lesedauer: 
Kirchenasyl

Schwabach ‐ "Es ist eine Gnade, dass ich das hier erleben darf." Seit Februar lebt der Syrer Joan im Kirchenasyl in Deutschland. Nach Monaten der Angst und Ungewissheit hofft er, sich hier ein neues Leben aufbauen zu können. Wir haben Joan im Kirchenasyl besucht.

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Er, das ist Joan. Wer verstehen will, warum der junge Mann mit Anfang 20 seine Heimat verlassen, alles zurückgelassen und sein Leben mehr als einmal riskiert hat, muss zurückblicken. In Joans Heimat Syrien herrscht Bürgerkrieg. 220.000 Menschen haben nach Angaben der Vereinten Nationen von März 2011 bis März 2015 ihr Leben verloren. Rund neun Millionen Syrer sind auf der Flucht: Mindestens 2,4 Millionen Menschen flohen aus ihrem Land und 6,5 Millionen sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Die UNO bezeichnete die Flüchtlingskrise als die schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda in den 1990er Jahren.

Joan war selbst ein Teil davon. Unmittelbar nach der Schule wird der muslimische Kurde aus Qamischli, einer multiethnischen Stadt im Nordosten des Landes nahe der türkischen Grenze, zum Militärdienst eingezogen. Ohne eine Ausbildung zu haben, geschweige denn eine Wahl. Anderthalb Jahre dient er in der syrischen Armee. Er muss in der Zeit erleben, wie einer seiner besten Freunde neben ihm stirbt, in Kämpfen wird er schwer verwundet, bis heute trägt er Granatsplitter im Rücken. Schließlich soll er sogar auf Zivilisten schießen, auf Alte und Kinder. Joan sieht nur eine Wahl, um all dem zu entkommen. Er desertiert.

Eine wirkliche Perspektive? Fehlt

"Ich hatte großes Glück", sagt Joan heute. "Mein Onkel lebte in der Türkei und konnte mir durch seine finanzielle Unterstützung die Flucht überhaupt erst möglich machen." Ohne Geld wäre eine Hoffnung auf Entkommen schier aussichtlos gewesen. Im November 2012 verlässt Joan sein Heimatland in Richtung Türkei. Ihm bleiben eine kleine Reisetasche, eine Hose, zwei T-Shirts, ein Notebook, sein Handy, ein paar Fotos, viele seelische und körperliche Narben und die zermürbende Sorge um seine Mutter und seine beiden Schwestern, die er zurücklässt.

Gut ein Jahr verbringt Joan im Land, hilft in einer kleinen Ambulanz bei Beschneidungen. Für Kost und Logis, nicht gegen Bezahlung. Eine wirkliche Perspektive? Fehlt. "Du musst weiter nach Europa", rät ihm sein Onkel. Seine einzige Chance für ein besseres Leben will Joan nutzen. Gemeinsam mit einem Cousin führt ihn der Weg zunächst ins Nachbarland Bulgarien. Joans Traum von einem Leben in Würde endet hier vorerst abrupt. Er wird von der dortigen Polizei aufgegriffen, als Asylsuchender registriert und ist somit gezwungen, seinen Asylantrag hier zu stellen. Sein Schicksal. Denn Bulgarien, das per Definition der Europäischen Union als "sicherer Drittstaat" gilt, in dem die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtskonvention als gegeben gesehen wird, erwartet Joan mit nichts von alledem.

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Video: © katholisch.de

"Sie sind unsere Brüder und Schwestern" - Bischof Norbert Trelle ist Migrationsbischof der Deutschen Bischofskonferenz und spricht mit katholisch.de über die Themen Kirchenasyl und Fremdenfeindlichkeit.

Es gibt keine Infrastruktur für Flüchtlinge. Die Bedingungen, unter denen er leben muss, sind menschenunwürdig, erzählt er. Joan berichtet von Zelten als Unterkünften, die kaum Schutz vor Winterkälte und Schneefall bieten, von Menschen, die in seiner Gegenwart erfrieren, und von Polizisten, die ihn um seine wenigen Halbseligkeiten bestehlen, foltern und misshandeln. Berichte, die man so ähnlich immer wieder hört. Die Würde des Menschen - hier und dort scheint sie in unterschiedlichem Maße antastbar zu sein.

"Ich hatte die Wahl, in Bulgarien ohne Perspektive wie ein Hund auf der Straße zu leben und wie ein Hund totgetreten oder vor Hunger zu sterben oder direkt nach Syrien zurückzugehen, um mich erschießen zu lassen", sagt Joan. Als Deserteur würde ihm zu Hause in Syrien der Tod drohen, ist er sich sicher. Doch nach zwei Monaten gibt es für ihn einen Hoffnungsschimmer: Sein Onkel und ein Anwalt organisieren ihm die Weiterreise gen Westen mit Hilfe von Schleusern. Es folgen lange Märsche über Feldwege, schier endlose Fahrten zusammengekauert auf viel zu kleinen LKW-Ladeflächen. Es geht über Serbien und Ungarn bis nach Österreich.

Chance auf Asyl in Österreich: 50:50

In der Erstaufnahmeeinrichtung dort folgt eine Prüfung der Fälle im Minutentakt. Wie eine Nummer sei er sich vorgekommen, nicht wie ein Mensch, sagt Joan. Sein Cousin hat Glück. Dessen Asylantrag wird stattgegeben. Joan dagegen hat Pech. Dieselbe Ausgangslage, ein anderes Ende. Chance: 50:50. Im falschen Land registriert. Niete statt Hauptgewinn. Es bleibt erneut die Wahl: Bulgarien oder illegal weiterziehen. Joan entscheidet sich für Letzteres.

Über Wien, Salzburg, München und Stuttgart gelangt er schließlich auf verworrenen und nicht bis ins letzte Detail nachvollziehbaren Wegen in die Erstaufnahmeeinrichtung im mittelfränkischen Zirndorf und von dort weiter in eine Gemeinschaftsunterkunft im nicht weit entfernten Schwabach. Joan unterscheidet nicht zwischen Bayern, Baden-Württemberg oder Österreich. Für ihn gibt es nur schwarz oder weiß: sicheres und damit gutes Leben mit Perspektive oder das, wovon er bereits in jungen Jahren genug hat erleben müssen.

Pfarrer Ehrl: "Ich musste nicht lange überlegen"

Doch auch in Deutschland ist die Lage aussichtslos, die Abschiebung nach Bulgarien steht schnell unmittelbar bevor. Bis ihn ein Freund auf das in Schwabach von Ehrenamtlichen betriebene Asyl-Café aufmerksam macht. Dessen Initiatorin überlegt nicht lange, sieht "Gefahr im Verzug", wendet sich an den Pfarrer der katholischen Gemeinde, mit der Bitte, Joan Kirchenasyl zu gewähren.

"Ich musste nicht lange überlegen", sagt Pfarrer Alois Ehrl. "Ich hatte bereits in der Vergangenheit ein bosnisches Paar in meiner damaligen Gemeinde aufgenommen, denn letztlich sollte es für uns Christen doch eine Selbstverständlichkeit sein, Menschen in ausweglosen Situationen, deren Leben bedroht ist, zu helfen."

Stichwort: Kirchenasyl

Der Begriff "Kirchenasyl" bezeichnet die zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen ohne legalen Aufenthaltsstatus, denen bei Abschiebung in ihr Herkunftsland Folter und Tod drohen oder für die mit einer Abschiebung nicht hinnehmbare soziale, inhumane Härten verbunden sind. Das Kirchenasyl steht in einer jahrhundertealten Schutztradition, aus der heraus es sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Art Institution entwickelt hat. Während des Kirchenasyls werden alle in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte geprüft. In vielen Fällen gelingt es nachzuweisen, dass Entscheidungen von Behörden überprüfungsbedürftig sind und ein neues Asylverfahren erfolgversprechend ist. In allen Fällen werden die Behörden und Gerichte über den Aufenthalt unterrichtet. Finanziert wird es aus Spendengeldern.

Viel Überzeugungsarbeit in der Gemeinde habe er nicht leisten müssen, sagt er. Schnell sei man sich in den Gemeindegremien einig gewesen, dass handeln besser sei, als immer nur zu reden. Mit dem Kirchenasyl hat Joan Zeit gewonnen. Zeit, die für den jungen Syrer über eine Perspektive im Leben entscheidet, vielleicht sogar über Leben und Tod. Hält sich Joan länger als sechs Monate in Deutschland auf, ist man hierzulande für die Prüfung seines Asylantrages zuständig und nicht mehr in Bulgarien, seinem ersten "Ankunftsland" in Europa. Mitte Juni ist es soweit. Bis dahin lebt Joan noch gemeinsam mit einem jungen Pfarrpraktikanten im Kaplanshaus der Gemeinde.

Ins Gemeindeleben ist er bereits fest integriert. Berührungsängste gibt es auf beiden Seiten kaum. Egal ob Getränke ausschenken bei der Geburtstagsfeier des Pfarrers, den Pfarrbrief zusammenlegen und eintüten - wo es geht, packt Joan mit an und will mit seinen Mitteln etwas zurückgeben. "Jetzt, wo es Frühjahr wird, möchte ich gerne im Garten arbeiten", sagt er. Mittel staatlicherseits bekommt Joan für die Zeit des Kirchenasyls nicht. Einmal in der Woche geben ihm zwei Lehrer aus der Gemeinde Deutschunterricht, seine Verpflegung finanziert zum überwiegenden Teil eine junge Frau.

Eine neue Liebe und Wunsch nach Arbeit

Melanie, sein Engel, wie Joan sagt. Täglich kommt sie bei ihm vorbei. Das Grundstück der Pfarrgemeinde darf Joan nicht verlassen. Würde er außerhalb aufgegriffen, verlöre das Kirchenasyl seine Wirksamkeit und er könnte sofort abgeschoben werden. Die Sache mit Melanie. Lange habe er überlegt, ob er überhaupt davon erzählen solle, sagt Joan. Er wolle nicht, dass ein falscher Eindruck entstehe. Kennengelernt haben sich beide am Silvesterabend. Da wusste sie nicht, dass Joan Asylbewerber ist. Und er wollte es eigentlich auch nicht sagen, sagt Joan. "Natürlich möchte ich sie irgendwann heiraten und gemeinsam mit ihr eine Familie gründen. Aber erst dann, wenn ich offiziell in Deutschland bleiben darf", fügt er hinzu. Die Chancen, dass Joans Asylantrag bewilligt wird, sind nach Aussagen von Rechtsanwälten gut.

Inschallah, so Gott will, werde er in Deutschland Fuß fassen können, sagt Joan. Sein Traum: In Frieden leben, sich mit Arbeit ein eigenes Leben in Deutschland aufbauen und seine Schwestern und seine Mutter in Sicherheit nach Deutschland bringen. Als Friseur würde er gerne arbeiten. Aber eigentlich sei das egal, jede Arbeit sei gute Arbeit. "Für mich ist es die letzte Chance", sagt Joan. "Wenn der Asylantrag in Deutschland abgelehnt wird, gehe ich zurück nach Syrien." Seine angepflanzten Kartoffeln müssten dann andere ernten. Der Rest bleibt unausgesprochen.

Von Michael Kniess